Stocker: "Weiß, dass wir mit Abschaffung der Belegpflicht nicht die Wirtschaft retten"

Ende Jänner spricht Christian Stocker als ÖVP-Chef und Vizekanzler in spe vor Journalisten in der ÖVP-Zentrale über eine gemeinsame Regierung mit der FPÖ unter der Führung von Herbert Kickl und sein Bestreben, sich für ein "einheitliches Auftreten in Europa" stark machen zu wollen.
Mitte März sind die Vorzeichen gänzlich andere, ist das Setting ein gänzlich anderes. ÖVP-Chef und Kanzler Stocker erklärt sich eine Woche nach der Regierungserklärung.
"In knapp zwei Wochen ist doch einiges passiert", beginnt Stocker sein kurzes Eingangsstatement, dem eine Tour de Raison von innenpolitischen Details bis internationalen Konflikten folgen wird. Die Regierung von ÖVP, SPÖ und Neos zeige nicht nur "einen Gestaltungswillen", sondern sei auch "ins Tun" gekommen.
Als erstes erwähnt Stocker den Mieteingriff, den Stopp des Familiennachzugs, das Entlastungspaket für die Wirtschaft und die ersten Beschlüsse im Parlament, um das Budget zu konsolidieren. "Die Bundesregierung war sehr aktiv“. Und er will dieses Tempo halten.
Der Arbeitsplan der Dreierkoalition
Kommenden Dienstag (18. März) kommt die 21-köpfige Regierungsmannschaft zu einer Arbeitsklausur ins Bundeskanzleramt, um sich insbesondere der Wirtschaft zu widmen. Die Chefs von Wifo und IHS, Gabriel Felbermayr und Holger Bonin, werden aktuelle Einschätzungen geben. Am 27. März werden WIFO und IHS ihre Prognosen vorstellen.
Der Arbeitsplan der Dreierkoalition stehe unter dem Motto einer "strukturierten Zusammenarbeit. Es geht nicht darum, Ansichten zu verbieten, sondern über den Schatten zu springen und Einstellungen anderer einfließen lassen“.
Ein Gutteil der Fragen, die Stocker gestellt werden, betreffen streng genommen den SPÖ-Finanzminister Markus Marterbauer und dessen Vorgänger wie ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner. Es geht um das Milliardendefizit Österreichs und darum, ob das Einsparungsziel über 6,4 Milliarden Euro möglich und damit ein EU-Defizitverfahren langfristig abwendbar ist.
ÖVP, SPÖ und Neos sind jedenfalls, das schickt Stocker voraus, "in dieser Periode übereingekommen, dass wir keine neuen Vermögenssteuern einführen wollen. "Vieles, was jetzt diskutiert wird, das ist jetzt erst im Fluss."
Österreichs Schuldentilgungsfähigkeit
Österreich wolle jedenfalls ein "EU-Defizitverfahren vermeiden. Das gilt auch weiterhin. Wenn wir neue Zahlen haben, werden wir uns ansehen müssen, was das für Österreich heißt. Zumal es hohe Investitionen in die Verteidigung geben wird", erklärt Stocker.
Wie volatil die Zahlen und die Situation sind, machen Sätze klar wie: "Es ist so viel nicht klar, dass ich jetzt nicht sagen kann: so wird es sein". Es gehe um die "Schuldentilgungsfähigkeit Österreichs. Ich bin gegen leichtfertige Schuldenpolitik. Ich halte es für notwendig, die Verteidigungskosten zu erhöhen. Das werden wir nicht aus der Portokassa machen können." Es gehe schlussendlich darum, herauszufinden, was in Österreich gemacht werden muss, um ein Verfahren auf EU-Ebene zu vermeiden.
Dies hängt maßgeblich von den erhöhten Verteidigungsbudgets in ganz Europa ab und davon, ob die Verteidigungskosten im Stabilitätspakt enthalten sind. "In ganz Europa soll es um 800 Milliarden gehen - das wird auch Auswirkungen auf die Wirtschaft haben."
Danach gefragt, in welcher Größenordnung beispielsweise weiter im Bereich der Exekutive gespart werden soll, sagt Stocker: "Wir werden in der Sicherheit nicht sparen. Wir haben noch kein Budget, sondern verhandeln gerade ein Doppelbudget. 7,5 Milliarden Euro würden eingespart werden, wenn wir das Budget fortschreiben würden“, rechnet der Bundeskanzler vor.
Zu den transatlantischen Beziehungen und dem Verhältnis zwischen US-Präsident Donald Trump und europäischen Staatenlenkern sagt der Regierungschef: "Zollschranken und Handelskriege haben in der Regel dazu geführt, dass die wirtschaftliche Situation zu einer Lose-lose-Situation geführt hat. Wir müssen wieder in eine Win-win-Situation kommen."
Wir müssen auf Entwicklungen reagieren, aber kühlen Kopf bewahren und dürfen nicht dramatisieren.
Es könne, sagt Stocker, weder "in unserem noch im europäischen Interesse sein, die transatlantischen Beziehungen zu belasten.“
Hernach geht es um Fragen von Klima- und Umweltpolitik, Maßnahmen für die Wirtschaft sowie den Stopp von Förderungen.
- Aus für Klimabonus: "Wir haben uns darauf verständigt, ihn abzuschaffen. Wie wir ihn kompensieren können“, das sei gerade Gegenstand der Verhandlungen. "Die Spielräume sind kleiner als wir es uns wünschen würden."
- Abschaffung der Belegpflicht bis 35 Euro: "Mit der Abschaffung der Belegpflicht, das weiß ich schon, werden wir die Wirtschaft nicht retten. Aber: Wir verstehen, wo der Schuh drückt, auch wenn er nicht gleich mit großen Summen verbunden ist."
- Energiepreisbremse: "Im Vorjahr wurde uns vorgeworfen, wir würden die Inflation durchrauschen lassen. Doch wir haben die Energiepreisbremse eingeführt. Jetzt müssen wir eine Umstellung erreichen von der direkten Förderung zu einer für die Energiewirtschaft, damit die Energiepreise in einem nicht-optimal funktionierenden Energiemarkt wieder sinken."
Christian Stocker über die Neutralitätsdebatte
Zur Frage, ob Österreich weiterhin an der Neutralität festhalten kann oder eine Debatte darüber begonnen werden muss, sagt Stocker: "Die Neutralitätsdebatte hat am falschen Ende begonnen. Wenn wir die Neutralität in der Sekunde abschaffen würden, was nicht passiert, weil es dafür keine Mehrheit in der Bevölkerung gibt und auch keine im Parlament, würde das in der jetzigen Situation nichts maßgeblich ändern."
Für Österreich gelte "Artikel 42 – die Beistandsverpflichtung für Österreich." Und Österreich bringe eine Beitragsleistung unter dem Aspekt der Neutralität. "Ich gehe nicht davon aus, dass Österreich das erste Angriffsziel der Russischen Föderation ist." Einmal mehr betont Stocker: "Neutralität ist kein Schutz vor Bedrohungen, sondern ein Staatsvertragsergebnis, um die Unabhängigkeit zu wahren. Die Debatte bringt nichts."
Der Bundeskanzler zum Stopp des Familiennachzugs
Danach gefragt, warum die Regierung den Stopp des Familiennachzugs prioritär behandelt, wiewohl die heimische Regelung wohl gegen EU-Recht verstoßen wird, sagt Stocker. "Wenn ich als Anwalt immer nur Prozess geführt hätte, die ich gewinne, hätte ich meinen Mandanten nicht gedient."
Und: "Nach Entscheidung auf EU-Ebene kann man Anleitungen mitnehmen, wie man rechtskonform zu jenem Ergebnis kommt, das wir uns wünschen. Wir müssen einen Rechtsrahmen schaffen, der Lösungen bringt. Das Recht ist dazu da, auf eine geordnete Weise zu Lösungen zu kommen."
Österreichs Haltung in Migrationsfragen stelle das Asylrecht dezidiert nicht infrage.

Christian Stocker und Herbert Kickl
Gen Ende des knapp einstündigen Mediengesprächs kommt die Rede und Frage wieder auf den Wahlsieger und Nicht-Koalitionspartner FPÖ.
Die FPÖ habe 1,4 Millionen Wähler, die ÖVP trenne von den Freiheitlichen rund 120. 000 Stimmen. "Die FPÖ-Wähler haben berechtigte Anliegen. Und um diese Anliegen geht es mir. Es hat viele Übereinstimmungen gegeben, wie nicht zuletzt das Budget zeigt." Zur Erinnerung: FPÖ und ÖVP einigten sich in ihren Regierungsverhandlungen auf einen Budgetpfad, der nun auch von der ÖVP, SPÖ und Neos-Regierung umgesetzt werden soll, um ein EU-Defizitverfahren abzuwenden.
Woran laut Stocker die ÖVP-FPÖ-Gespräche scheiterten
Den FPÖ-Wählern sei es mit Sicherheit "ebenso wichtig, dass wir ein sicheres Land sind, dass Bildung und Gesundheit in diesem Land funktionieren. Es geht mir darum, ein Kanzler für alle zu sein.“
Gescheitert seien die FPÖ-ÖVP-Gespräche insbesondere an Herbert Kickl. "Er hatte Vorstellungen von der internationalen Ausrichtung des Landes, die für uns nicht kompatibel waren.“ Es sei, wenn auch symbolhaft, um die Europa-Fahne gegangen und darum, dass Kickl sie habe entfernen wollen. "Die Zukunft von Österreich liegt aber in Europa und nicht in einer Festung."
Dem Bundeskanzler sei es, wie er sagt, ein Anliegen, die Gegensätze der Vergangenheit zu überwinden: "Es gibt Zeiten, die sind für Konflikt gemacht und es gibt welche, die sind für Konsens gemacht. Wir brauchen Konsens-Demokratie. Deshalb will ich Brücken bauen und unter Beweis stellen, dass man sich nicht in einer Festung verschanzen muss. Sondern, dass es gut ist, Verbündete zu haben." Kickl habe fünf gute Jahre versprochen, aber seine Chance nicht ergriffen.

An die Anrede "Herr Bundeskanzler" habe sich Christian Stocker schon gewöhnt. Er könne es auch nachvollziehen, dass Medien immer wieder betonen, er sei innerhalb weniger Wochen vom Wiener Neustädter Vizebürgermeister und ÖVP-Generalsekretär zum Parteichef und Kanzler geworden. "Ich habe allerdings auch fünf Jahre Erfahrung im Parlament gewinnen dürfen. Ich kam also nicht direkt von der Kommunalpolitik in dieses Amt."
Kommentare