Jetzt hat er den Scherm auf, ein bisserl zumindest. Prinzipiell macht Christian Stocker ja viele Sachen ganz gern. Der Anwalt golft (TC Föhrenwald, Handycap: 26). Er spielt (selten, aber doch) Saxofon, steht (noch seltener) fliegenfischend in Flüssen; und wer ein Vierteljahrhundert Vizebürgermeister von Wiener Neustadt bleibt, der muss das mit ein wenig Wonne erledigen – alles andere wäre nackte Selbstquälerei.
Aber die Sache, die nun auf ihn wartet, ist erstens kein Hobby und zweitens um einige Schuhnummern größer als seine Kanzlei oder der Gemeinderat. Der 64-Jährige soll ab Montag die Regierung führen. Und eine der Fragen, die sich Beobachter am Beginn stellen, ist diese: Warum tut er sich das an, der „Sturmi“, wie sie ihn in seiner MKV-Verbindung rufen? Immerhin ist er weder karrieretechnisch noch finanziell auf Partei und Politik angewiesen.
Die schnelle Antwort lautet: Weil er von den gewichtigsten Menschen der ÖVP inständigst darum gebeten wurde; und weil er der altmodischen Ansicht anhängt, Politik und Politiker hätten dem Land zu dienen. Das sagen übrigens auch politische Gegner über ihn.
Was zu der Frage führt: Wie tickt der in Medien bereits als „unwahrscheinlichster Kanzler der Zweiten Republik“ titulierte?
Von Christian Stocker wird überliefert, er ärgere sich nur dann sichtbar, wenn er den Golfball nicht oder nur schlecht trifft.
Das ist vermutlich etwas übertrieben. Aber Freunde beschreiben den Zigarrenfan (er ist Vorsitzender eines Zigarrenklubs namens „Aficionados“) als bedingungslosen Pragmatiker, der keinen Konflikt scheut – auch nicht in der ÖVP. „Als Wiener Neustadt 2015 pleite war, fand sich keine Bank, die den Sanierungskurs des damaligen Finanzreferenten Stocker unterstützen wollte“, erzählt ein Wegbegleiter.
Guter Schuldner
Die Bank of China hätte sofort ausgeholfen, sie sah in der Stadt einen guten Schuldner. Und er hätte diesen Weg eingeschlagen, auch wenn das in St. Pölten auf Ärger und Widerstand gestoßen wäre. Seine Konsequenz führte dazu, dass sich letztlich eine heimische Bank für die Sanierung fand.
Ideologisch ist Stocker ziemlich genau in der Mitte der Volkspartei zu verorten.
Am Beginn seiner Berufslaufbahn, als Angestellter, war er beim ÖVP-Arbeitnehmerbund. Als Firmenchef ist er nun Wirtschaftsbündler.
Mit der SPÖ und denn Freiheitlichen hatte er nie Berührungsängste, im Gegenteil: Er ging auf sie zu, zumindest in Wiener Neustadt. Ausgerechnet in jenen Stadtteilen, in denen die SPÖ und auch FPÖ besonders stark waren bzw. sind, startete Stocker die Aktion „Fassl im Gassl“: Mit einem Fass Bier stellte sich der Christlich-Soziale auf die Straße und begann mit den Passanten, meist keine Freunde der ÖVP, zu diskutieren.
Herbert Kickl war und ist für Stocker freilich eine andere Kategorie.
Mit dem FPÖ-Chef konnte und wollte der ÖVP-Obmann nie wirklich. Die Tatsache, dass er mit ihm über eine Koalition verhandeln musste, war Stocker persönlich zuwider und wurde ihm von Freunden, Familie, ÖVP-Wählern und Medien auch übel genommen – immerhin hat Stocker Kickl auch nach der Wahl noch als Sicherheitsrisiko bezeichnet und dem Blauen auf den Kopf zugesagt, dass ihn im Parlament niemand brauche. „Situationselastisch bis zur Selbstverleugnung“, titelte die Süddeutsche Zeitung über Stocker. Er selbst kiefelt bis heute daran, dass ihm der scheinbare Gesinnungswandel und die Verhandlungen einen „irreparablen Rufschaden“ zufügten, wie er sagt.
Warum hat er dann trotzdem mit Kickl verhandelt?
Weil er dachte, das Land brauche jetzt schleunigst Stabilität, sagen Wohlmeinende. Aus reiner Machterhaltung und -gier, ätzen Kritiker.
Vielleicht stimmt ja beides ein wenig. Das Argument mit der Macht hat jedenfalls nur einen Schönheitsfehler: Unter Kickl wäre Stocker „nur“ Vizekanzler gewesen. Jetzt wird er deutlich mehr. Er wird Bundeskanzler.
Kommentare