Zwölf Eier für Mindestlohn: Venezuelas gescheiterte Revolution

An der Grenze zu Kolumbien boomt der Schwarzhandel
Vor einem Jahr versuchte Juan Guaidó als selbsternannter Präsident Staatschef Maduro zu stürzen.

In der "Schatzkammer" der Casa de Paso Divina Providencia im kolumbianischen Cucuta schlummern die "Reichtümer" für den nächsten Tag: Säcke von Kartoffeln, Reis, Hühnerfleisch und "was in diesen Tagen das Teuerste ist", wie Cucutas Bischof Victor Manuel Ochoa berichtet: gekühltes Trinkwasser.

Ochoa arbeitet an der Front, an der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien. Dort, wo jeden Tag Zehntausende Venezolaner die Grenze überqueren und viele von ihnen nicht mehr zurückkehren, weil sie es in ihrer Heimat nicht mehr aushalten.

Zwölf Eier für Mindestlohn: Venezuelas gescheiterte Revolution

Busfahrer Rolando Arias mit seinen Töchtern

"Es funktioniert nichts mehr in Venezuela", berichtet Rolando Arias, 46, aus Barquisimeto, der mit seiner Frau und den beiden Töchtern das Land verlassen hat, um in Kolumbien einen Neuanfang zu wagen.

In Venezuela war er Busfahrer, doch im ölreichsten Land der Welt gibt es aufgrund der heruntergewirtschafteten Ölindustrie und des massiven Schmuggels keinen Sprit mehr. "Die Lage ist aussichtslos. Wir haben entschieden, zu gehen", sagt Arias.

4,5 Millionen Flüchtlinge

In den vergangenen vier Jahren haben bereits 4,5 Millionen Menschen Venezuela verlassen. Und die UNO rechnet in diesem Jahr mit rund 1,5 Millionen weiteren Flüchtlingen aus dem darniederliegenden Land.

Als die Wähler die Sozialisten 2015 bei den Parlamentswahlen abstraften und die Opposition einen Erdrutschsieg einfuhr, dachten viele, das wäre die Wende. Doch es kam anders.

Venezuelas linksextremer Präsident Nicolás Maduro ließ das verloren gegangene Parlament entmachten und ersetzte es später durch eine verfassungsgebende Versammlung, ausschließlich besetzt mit linientreuen Anhängern.

Maduro hatte zuvor Gespräche platzen lassen

Maduro

Vor ziemlich genau einem Jahr, am 23. Jänner, versuchte der Oppositionelle Juan Guaidó das Ruder herumzureißen und rief sich selbst zum Präsidenten aus. Hunderttausende Venezolaner stellten sich hinter ihn, sogar einige Militärs liefen über, und Dutzende Staaten erkannten Guaidó als Staatschef an.

Dennoch konnte er den Machtkampf bisher nicht für sich entscheiden – es herrscht weiterhin ein Patt.

Zwölf Eier für Mindestlohn: Venezuelas gescheiterte Revolution

Juan Guaidó

Der Staat befindet sich indes in Auflösung. Caritas-Experte Oliver Müller, der jüngst das Land besuchte, berichtet: "Es gibt Schätzungen von einer Inflationsrate von 135.000 bis zu einer Million Prozent und noch viel höher. Das hat dazu geführt, dass der monatliche Mindestlohn nur noch 1,70 Euro wert ist. Dafür kann man derzeit etwa zwölf Eier kaufen. Und das war es dann für den Rest des Monats. Der Großteil der Bevölkerung ist damit beschäftigt, das tägliche Überleben zu sichern."

Bewaffnung

Was hingegen funktioniert, ist die Bewaffnung der Sicherheitskräfte und regierungsnahen paramilitärischen Banden. Präsident Maduro will seine gefürchteten Milizen auf drei Millionen Männer und Frauen aufstocken. Zudem will er diese Banden legalisieren. Diese sowie die gefürchtete Polizei-Spezialeinheit FAES sorgen dafür, dass das Land eines der gefährlichsten weltweit ist.

Zum Jahreswechsel veröffentlichte die unabhängige "Venezolanische Beobachtungsstelle für Gewalt" (OVV) die jüngsten Zahlen über Polizeigewalt: Insgesamt 5.286 Tote gab es nach Polizeieinsätzen gegen "mutmaßliche Kriminelle", die "Widerstand gegen die Autorität" geleistet hätten.

Ein Großteil dieser Todesfälle seien "außergerichtliche Hinrichtungen", sagt OVV-Direktor Rodrigo Briceno-Leon.

Ärzte, Pfleger sind weg

Eine besonders perfide Art, sich Bürgern zu entledigen, die nicht auf Regierungslinie liegen: "In Caracas haben die Schüler nur an 60 Tagen im Jahr Unterricht gehabt. Das liegt daran, dass die Lehrer das Land verlassen oder mehrere Jobs angenommen haben, um irgendwie zu überleben. In den Provinzstädten erliegt das Leben nach 18 Uhr, weil sich die Menschen aus purer Angst bei Dunkelheit nicht mehr auf die Straße trauen", sagt Caritas-Experte Müller.

Die Krankenhäuser sind verwaist, weil Pflegepersonal und Ärzte geflohen sind. Viele arbeiten nun in den lateinamerikanischen Nachbarländern.

Und viele von den Flüchtlingen landen in der Erstaufnahmestelle in Cucuta im Nachbarland Kolumbien. "Wir bekommen hier zumindest eine warme Mahlzeit pro Tag. Das ist eine große Hilfe, den Alltag zu überstehen", sagt Busfahrer Rolando Arias. Sein Ziel: Möglichst schnell eine Arbeit zu finden, um jenem Teil der Familie, der noch in Venezuela geblieben ist, Geld schicken zu können. "Damit sie überleben können."

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