"Nationale Selbstbeschädigung": Pressestimmen zum Brexit-Deal

"Nationale Selbstbeschädigung": Pressestimmen zum Brexit-Deal
Der Pakt, der die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU bis ins Detail regelt, steht. Das schreiben Zeitungen darüber.

Es war ein Drama bis zur letzten Sekunde und bis zur völligen Erschöpfung der Verhandler, aber: Der Pakt, der die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU bis ins Detail regelt, steht. Das Schreckensszenario eines No-Deals wurde abgewendet.

Der Pakt soll Zölle verhindern und die Wirtschaftsbeziehungen so reibungslos wie möglich halten. Zudem soll er den EU-Fischern Zugang zu britischen Gewässern sichern und viele Alltagsfragen klären, etwa die Zusammenarbeit bei Polizei, Justiz oder Energieversorgung, aber auch den Studentenaustausch.

Hier einige Pressestimmen über die Einigung:

"The Times" (London)

"Endlich. Am Ende eines Jahres, in dem es kaum gute Nachrichten gab, ist Boris Johnsons Verkündung eines Deals über die künftigen Beziehungen mit der Europäischen Union eher ein Quell der Erleichterung als ein Grund zum Feiern. Dass überhaupt ein Deal erreicht wurde, ist in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Leistung. Normalerweise wird über derartige Abkommen jahrelang verhandelt; dieses wurde in neun Monaten erreicht und das während einer globalen Pandemie, die über weite Teile des Jahres persönliche Treffen verhinderte. Mehr noch: Handelsabkommen sind normalerweise darauf angelegt, die beiden beteiligten Seiten einander näher zu bringen; dieses ist das erste in der Geschichte, das es ihnen ermöglichen soll, sich weiter auseinander zu entwickeln. Das bedeutet, dass dies unweigerlich ein Deal ohne Sieger und mit politischen und wirtschaftlichen Kosten ist, die von beiden Seiten zu tragen sein werden."

"The Guardian" (London)

"Es kann kein Handelsabkommen geben, ohne dass die von den Brexit-Ideologen gehegte Vision einer vollkommenen Souveränität irgendwie getrübt wird. Dieses Zugeständnis wird im Kleingedruckten versteckt sein. Und Boris Johnson wird sein gesamtes rhetorisches Arsenal und seine Fähigkeit zu politischen Ablenkungsmanövern einsetzen, um sein Abkommen als eine Charta der heroischen nationalen Emanzipation zu präsentieren. Dabei hilft ihm, dass die Zeit, die für die Ratifizierung zur Verfügung steht, knapp ist. Das Parlament wird zurückgerufen, aber Hunderte von Seiten der technischen Vereinbarung können nicht mehr bis zum Ende nächster Woche durchdacht werden. Der verkürzte Zeitplan lässt wenig Spielraum für eine Entscheidung zwischen den Optionen Ablehnung und Billigung. Ersteres wäre katastrophal, letzteres gibt die demokratische Kontrolle preis. Aber das ist keine Überraschung. Das ist die Art und Weise, wie Boris Johnson Geschäfte macht."

"The Independent" (London)

"Die Erleichterung darüber, dass endlich ein Abkommen zustande gekommen ist, sollte nicht über diesen Moment der nationalen Selbstbeschädigung hinwegtäuschen. Wie der EU-Chefunterhändler Michel Barnier uns in Erinnerung rief, ist es für Großbritannien und das übrige Europa traurig, die unbegrenzte Freiheit zu arbeiten, zu studieren und Handel zu treiben, die für den größten Teil des vergangenen halben Jahrhunderts bestand, mit dem zu vergleichen, was nun vor uns liegt. (...)

Dieser Deal ist besser als nichts. Und er wird mit der erwarteten Unterstützung der Labour Party rasch durch das Parlament kommen, wenngleich die Schottische Nationalpartei SNP wahrscheinlich symbolisch Widerstand leisten wird - in der Gewissheit, dass ein 'No Deal' vermieden wurde. Was dieser schwache neue Vertrag nicht tun wird, ist, den nationalen Streit darüber zu beenden, wie Großbritanniens Wohlstand und Sicherheit gewährleistet werden sollen. Das Gefühl der Erleichterung ist sehr real und willkommen, aber nur in dem Sinne, dass man aufhört, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen."

"Tages-Anzeiger" (Zürich)

"Es ist die gute Nachricht zum Jahresende: Grossbritannien und die EU finden nach der Brexit-Scheidung nun doch zu einer geregelten Partnerschaft. (...) Es ist ein Sieg der Vernunft, ein Deal gegen das Chaos, das ab dem 1. Januar unweigerlich gedroht hätte, wenn Grossbritannien nach der EU auch den Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. (...) Für EU-Kommission und Mitgliedstaaten ging es von Anfang an nur um Schadensbegrenzung. Und hier scheint Brüssel recht erfolgreich gewesen zu sein. So kann die EU einseitig Zölle verhängen oder andere Gegenmaßnahmen beschliessen, wenn Grossbritannien bei Staatsbeihilfen oder Sozialstandards Dumping betreibt - möglicherweise also mehr Willkür, als es die Schweiz mit dem Streitschlichtungsmechanismus im Rahmenabkommen befürchten müsste. (...) Der Preis der Scheidung ist noch unbekannt, Gewinner und Verlierer des Brexit werden erst im nächsten Jahr wirklich feststehen."

"Neue Zürcher Zeitung"

"Der Abschluss des EU-Freihandelsabkommens ist für Grossbritannien die beste Nachricht des Jahres. Der Weg dahin war unnötig schwer, die Wirkung wird unnötig klein sein. Dennoch ist der Vertrag jeden Buchstaben wert. (...) Die Vernunft hat gesiegt, auf beiden Seiten. (...) Doch niemand sollte sich Illusionen machen: Es gibt beim Brexit keine Gewinner. Aus wirtschaftlicher Sicht ist ein Verlassen des Binnenmarktes und der Zollunion der EU - jene harte Ausstiegsvariante, die Premierminister Boris Johnson vorantrieb - ein schädlicher Unsinn. (...) Dieser harte Brexit ist einer der grössten Akte wirtschaftlicher Selbstverletzung in der modernen Handelsgeschichte. London gibt die Taube in der Hand auf und hofft auf den Spatzen auf dem Dach, etwa in Form eines Handelsabkommens mit den USA. (...) Das Freihandelsabkommen ist Schadensbegrenzung."

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