Wolodimir Selenskij ist kein Freund der leisen Worte, das weiß man nach fast neun Monaten Krieg. Wenn er verbal ausholt, dann mit dem Holzhammer.
Bisher brachte ihm das eigentlich mehr Sympathie als Kritik ein. Seit dem Raketeneinschlag in Polen hat sich das geändert: Während sich Polen und die USA ganz bewusst abwartend gaben, jede Eskalation mit Russland zu vermeiden suchten, beschuldigte der ukrainische Präsident ganz offen Moskau. Russland habe möglicherweise absichtlich ein NATO-Land bombardiert und so eine „signifikante Eskalation“ herbeigeführt, sagte er in der Nacht.
Dass Selenskij von seiner Linie auch dann noch nicht abwich, als die NATO ihr Untersuchungsergebnis präsentierte – es dürfte sich um eine ukrainische Abwehrrakete handeln –, sorgt für Irritationen im Westen. Er beharrt darauf, dass „zweifellos“ kein ukrainisches Geschoß in Polen eingeschlagen sei. Der Krater sei zu groß, um nur von einer Rakete verursacht worden zu sein.
Vertrauensverlust
„Das ist zerstörerischer als die Rakete selbst“, sagte ein ungenannter NATO-Offizieller darauf der Financial Times. „Die Ukrainer zerstören unser Vertrauen in sie. Niemand gibt ihnen die Schuld, und jetzt lügen sie öffentlich.“
In einer Zeit, in der die Hilfen für die Ukraine aus dem Westen wackeln – die Republikaner in den USA dürften künftig auf der Bremse stehen –, ist dieser Zwist zusätzlicher Ballast. In Polen ist man daher um Kalmierung bemüht. „Niemand wirft der Ukraine vor, dass sie wissentlich polnisches Territorium bombardiert hat“, so ein Berater von Präsident Andrzej Duda. Weil man die Sache aus der Welt schaffen will, dürfen ukrainische Experten nun der Untersuchung beiwohnen – das hatte Selenskij gefordert.
Foltervorwurf
Russland behauptet nach wie vor, mit dem Beschuss nichts zu tun zu haben, und kommentiert den Prozess der Wahrheitsfindung hämisch.
Am Donnerstag wurde ein anderer Vorwurf gegenüber Moskau laut: Eine Woche nach dem Abzug der Russen aus Cherson fand man dort 63 Leichen mit Folterspuren. Die Opfer sollen in illegalen Gefängnissen mit Elektroschocks traktiert, mit Knüppeln geschlagen und erstickt worden sein.
Insgesamt verfolge man 436 Fälle von Kriegsverbrechen, die während der Besatzung verübt worden sein sollen, so die ukrainischen Behörden. Sie werden von westlichen Experten unterstützt. Russland bestreitet, dass seine Truppen Zivilisten ins Visier nehmen würden – Moskau spricht, wie schon in Butscha, in solchen Fällen stets von „Fakes“. Evelyn Peternel
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