Selenskij stürzt in seine größte Krise: Hat er zu hoch gepokert?

FILE PHOTO: Ukraine Recovery Conference, in Rome
Einst kämpfte er gegen Klüngelei, nun wollte der ukrainische Präsident die unabhängigen Behörden selbst an die Kandare nehmen. Gut möglich, dass Selenskij sich dabei verkalkuliert hat.

In seiner Serie „Diener des Staates“ machte sich Wolodimir Selenskij jahrelang über eine ukrainische Eigenart lustig: Als naiver Lehrer, der unabsichtlich ins Präsidentenamt gespült wurde, karikierte er die absurde Korruptionsanfälligkeit der heimischen Politik. Unvergessen ist da etwa Putin-Intimus Wiktor Janukowitsch, der 2014 als Präsident aus dem Amt gejagt wurde; er hatte neben Privatzoo und Boxring auch goldene Klobrillen.

Umso unverständlicher scheint deshalb, dass Selenskij, der 2019 noch als Kämpfer gegen Klüngelei die Wahl gewann, nun selbst gegen die Korruptionsbekämpfer ins Feld zieht. Mit dem „Gesetz 12414“ hätten die zwei unabhängigen Behörden Nabu und Sapo, die binnen der letzten elf Jahre beachtliche Erfolge erzielt hatten, quasi unter Selenskijs Kuratel gestellt werden sollen; so lautete zumindest der Plan. Eine aufgebrachte Öffentlichkeit machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung – am Donnerstag soll das Gesetz wieder revidiert werden.

Selenskij gilt seither als angeschlagen, nicht nur im Inland, sondern vor allem in Europa. Ausschlaggebend für die Rückabwicklung des Gesetzes war dem Vernehmen nach nämlich weniger der Protest in Kiew, sondern Druck aus Brüssel: Schon vor dem Eklat hatte die EU mehrere Milliarden an Hilfen zurückgehalten, weil der EU-Kandidat keine Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung gemacht hatte. Nach Verabschiedung des Gesetzes ließ man Kiew informell wissen: Geht das Ganze tatsächlich so durch, werde die EU die gesamte Finanzhilfe aussetzen.

Zwar wäre das technisch nicht so einfach, aber die Drohung scheint gewirkt zu haben. Seit Kriegsbeginn bekam das Land 138,9 Milliarden Dollar für Gehälter, Pensionen oder Gesundheitswesen, den größten Brocken davon – mehr als 50 Milliarden Dollar – von der EU. Ohne diese Hilfe von außen wäre die Ukraine nicht lebensfähig, und eine Fortführung des Krieges wäre völlig undenkbar.

Mächtiger Schattenmann

Was Selenskijs angetrieben hat, ist die andere Frage. Eine Begründung dürfte die Machtübernahme Trumps gewesen sein, der weit weniger auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards pocht als dessen Vorgänger Biden. Möglicherweise, sagen Beobachter, wollte Kiew dieses Vakuum zum eigenen Machtausbau nutzen – und zur Abwehr von Schaden: Die geschassten Korruptionsjäger ermittelten kürzlich auch in Selenskijs eigenem Umfeld wegen Selbstbereicherung. Im Visier stand dabei Vizeregierungschef Olexij Tschernischow, ein alter Freund des Präsidenten; er wurde mittlerweile abberufen.

Ein schlechtes Licht wirft die Affäre um das Gesetz auch auf Selenskijs Machtzirkel. Innenpolitische Entscheidungen hat er schon lange in die Hände von Vertrauen gegeben hat, allen voran Präsidialamtsleiter Andrij Jermak. Er, ein Ex-Produzent von Selenskijs TV-Serie, gilt als absoluter Loyalist, der manchmal auch zu unlauteren Mitteln greift. Er ist mittlerweile eindeutig der zweitmächtigste Mann im Staat – und das, obwohl er nie gewählt wurde.

Diese schiefe Konstruktion erinnert viele Ukrainer schon lange an alte Zeiten – seit dem Gesetzesbeschluss umso mehr.

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