Warum es keine Flugabwehrrakte war, die das Kinderkrankenhaus in Kiew traf

Warum es keine Flugabwehrrakte war, die das Kinderkrankenhaus in Kiew traf
Russland behauptet, eine ukrainische Flugabwehrrakete sei in das Krankenraus Ochmatdyt gestürzt. Drei Argumente, warum das nicht stimmen kann.

Die Bilder des eingestürzten ukrainischen Kinderkrankenhauses Ochmatdyt in Kiew sorgten weltweit für Entsetzen. Die Ukraine und das UN-Menschenrechtsbüro machen einen russischen Marschflugkörper vom Typ Kh-101 (auch Ch-101) für die schweren Schäden verantwortlich. 

Doch in sozialen Medien und durch die russische Regierung wird ohne Belege eine andere Version verbreitet: Schuld soll eine abgestürzte ukrainische Flugabwehrrakete sein. Ein Faktencheck.

Warum es keine Flugabwehrrakte war, die das Kinderkrankenhaus in Kiew traf

Die Behauptung

Eine ukrainische Flugabwehrrakete des Nasams-Systems ist nahe dem Kinderkrankenhaus in Kiew eingeschlagen. Russland kann also nicht für den Angriff verantwortlich sein.

Die Bewertung

Militärexperten widersprechen der Behauptung Moskaus: Derartige Zerstörungen könnte eine Flugabwehrrakete kaum anrichten, eher ein russischer Marschflugkörper vom Typ Kh-101. Ein solcher ist zudem in Videos des Raketeneinschlags zu erkennen.

Die ausführlichen Fakten

In gab es in der Früh des 8. Juli mehrere Raketeneinschläge. Auch ein Gebäude am Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus im Nordwesten der Stadt wurde getroffen, wie Fotos ukrainischer Behörden und unabhängiger Journalisten zeigen. Deutlich ist der Teil-Einsturz eines Nebengebäudes zu sehen.

Viele Fenster und Teile der Verkleidung der etwa zehnstöckigen Fassade wurden zerstört. Nach Einschätzung von drei Militärexperten passt dieser Schaden nicht zu der Behauptung, hier sei eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, wie sie das ukrainische Nasams-Flugabwehrsystem verwendet.

Argument 1: Flugabwehrrakete verursacht geringere Schäden

Für das Nasams, ein von norwegischen und US-amerikanischen Rüstungskonzernen entwickeltes System, nutzt die Ukraine Flugabwehrraketen vom Typ AIM-120 AMRAAM. Sie besitzen einen Gefechtskopf von etwa 20 Kilogramm Gewicht

"Die AIM-120 AMRAAM ist eine Flugabwehrrakete, die dafür gedacht ist, Flugkörper abzuschießen. Der Gefechtskopf ist so designt, dass er neben dem Flugkörper explodiert, sodass die Splitter diesen treffen", sagt Markus Schiller der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Der Experte für Raketentechnik lehrt unter anderem an der Universität der Bundeswehr zu Fernflugkörpern.

Laut Schiller durchlöchern die vielen Metallteile aus dieser Flugabwehrrakete gewissermaßen ihr Ziel. Ein solches Phänomen sei an der Klinik aber nicht sichtbar. 

"Wäre dort eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, würde man viele kleine Krater oder Vertiefungen durch die Splitter am Einschlagsort sehen, kein halb eingestürztes Gebäude. Sie würde auch keine so große Druckwelle erzeugen", sagt Schiller. "Das Schadensbild zeigt eindeutig den Einschlag von etwas Größerem."

Warum es keine Flugabwehrrakte war, die das Kinderkrankenhaus in Kiew traf

Die Schäden am Nebengebäude des Ochmatdyt-Kinderkrankenhauses in Kiew sind enorm.

Zur gleichen Einschätzung kommt auch Fabian Hoffmann, der an Universität Oslo zu Raketentechnik und Nuklearstrategie promoviert. Die Menge an tatsächlichem Sprengstoff in einem 20-Kilogramm-Gefechtskopf eines AIM-120 sei begrenzt. Dieser sei "niemals in der Lage, ein solches Ausmaß an Zerstörung zu verursachen", sagt Hoffmann der dpa. 

Das Schadensprofil passe zu einem Kh-101-Sprengkopf des russischen Marschflugkörpers, der insgesamt etwa 400 bis 450 Kilogramm wiegt.

Argument 2: Video zeigt Marschflugkörper kurz vor Einschlag

Vom Anflug der Rakete und dem Moment des Einschlags existieren mindestens zwei verschiedene Augenzeugen-Videos. Dass aus leicht unterschiedlichen Winkeln dieselbe Szene gezeigt wird, macht eine Manipulation äußerst unwahrscheinlich. Über die Fassade des Kinderkrankenhauses lassen sich die Videos eindeutig dem Ort des Angriffs zuordnen.

Sieht man sich einzelne Bildausschnitte des Videos vom Anflug der Rakete genauer an, so ist am Heck ein dunkler, rechteckig wirkender Anbau zu erkennen. 

Timothy Wright von der Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) erklärt, worum es sich dabei handelt: "Auf dem Video ist deutlich ein Motor unter der Raketenzelle zu sehen, ein Merkmal, das bei der Kh-101 vorhanden ist, nicht aber bei der Nasams, deren Feststoffmotor vollständig im Gehäuse der Rakete untergebracht ist." 

Diese Beobachtung bestätigen neben den anderen beiden Militärexperten auch Recherchen der Investigativ-Plattform Bellingcat.

Argument 3: Eigenschaften passen nicht zu Flugabwehrrakete

Während die Flugabwehrrakete spitz wie ein Dartpfeil geformt sei, hat die einschlagende Rakete aus den Videos eher die Silhouette eines abgerundeten Torpedos - wie der Kh-101-Marschflugkörper. "Nasams erreicht außerdem ein Mehrfaches der Schallgeschwindigkeit, während die Kh-101 viel langsamer ist, was mit der Geschwindigkeit der Rakete in den Aufnahmen übereinstimmt", so Wright.

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Ein vom ukrainischen Justizministerium veröffentlichtes Foto der geborgenen Raketenteile.

Auch das ukrainische Justizministerium hat Belege dafür veröffentlicht, dass eine russische Rakete das Krankenhaus getroffen hat. "Spezifische Konstruktionsbesonderheiten der gefundenen Trümmerteile und entsprechende typische Markierungen zeugen vom Einsatz eines strategischen Marschflugkörpers des Typs Kh-101", heißt es aus dem Justizministerium. 

Es seien insgesamt mehr als 30 Fragmente der Rakete gefunden worden, darunter Teile des Triebwerks und der Flügel. Zuvor hatte der ukrainische Geheimdienst SBU Fotos von Trümmerteilen einer Kh-101-Rakete vorgelegt.

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