Es war kurz vor Corona in der berühmten Oyster-Bar in den Katakomben von „Grand Central Station“ in New York. Austern, Krabben, Shrimps, Zander und Lachs gerieten vorzüglich. Der Grauburgunder ebenso. Als den aus Washington angereisten Besuchern die bei 250 $ angesiedelte Rechnung für Zwei präsentiert wurde, glaubte sich der Gast, weil blendend bedient, großzügig - und legte rund 40 Dollar drauf. „Mehr als 15 Prozent Trinkgeld, damit kann man doch nichts falsch machen“, erinnert sich Susan Miller an den Moment, als die voluminöse Kellnerin ihren Gatten anblaffte: „Ist das Dein Ernst, Buddy? Hier sind 30 Prozent fällig.“
Geizhals-Variante
Auch Trinkgelder sind inzwischen ins Digitale abgewandert. Mehr und mehr diktieren (auch dort, wo bis dato nicht „getipt“ wurde) Inkasso-Computer das Kundenverhalten. Gemeint sind kleine Bezahlterminals, in die der Kunde seine Kreditkarte schiebt. Dort tauchen neben der Geizhals-Variante „No Tip“ in der Regel drei Optionen fürs Trinkgeld-Entrichten auf: 15 Prozent, 18 Prozent? 20 Prozent?
Zuschläge höher geschraubt
Der dahinter stehende Betrag ist bereits in Dollar und Cent ausgerechnet - und erhöht die eigentliche Rechnung um den Faktor beträchtlich. Einige Bezahldienste haben die automatisierten Zuschläge frech noch höher geschraubt. Hier stehen dann 22, 25 oder 30Prozent plus zur Auswahl.
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Was mit dem ursprünglichen Sinn eines Trinkgelds, Wertschätzung gegenüber der erbrachten Leistung und dem in der Regel mies bezahlten Leistungsüberbringer auszudrücken, nicht mehr viel gemein hat. Trinkgeld-Experte Michael Lynn von der Cornell Universität hat herausgefunden, dass viele Menschen in diesen Situationen einen unangenehmen sozialen Druck verspüren. Und meist ein höheres Trinkgeld geben, als sie insgeheim für angemessen halten.
Weil der Kleinkrieg um das Zusatz-Kleingeld sich nicht mehr nur auf die Gastronomie beschränkt, macht seit einigen Wochen der Begriff „tipflation“ die Runde in den sozialen Netzwerken.
„Ein zweiter Kaufpreis“
„Das ist mittlerweile wie ein zweiter Kaufpreis“, sagt Dave Regales. Der 67-Jährige Rentner aus Arlington im Bundesstaat Virginia hat ermittelt, dass „die Lebenshaltungskosten im Monat locker um 200, 300 Dollar steigen, wenn ich den Aufforderungen zum Trinkgeldgeben jedes Mal umfassend nachkommen würde“. Statt „Stimmt so!“ mit anschließendem Groll darüber, unangemessen viel gegeben zu haben, wünscht sich der ehemalige Beamte eine „Bezahlschranke“. Jedenfalls bei Dienstleistungen, wo kein echter, durch Menschen erbrachter Service-Charakter zu erkennen ist. Dem Kunden die Option anzubieten, 30 Prozent Trinkgeld zu geben, hält Regal angesichts durchgängig gestiegener Preise „für einigermaßen obszön“.
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Dabei hat das freiwillige Zubrot eine wichtige Stabilisierungsfunktion. Wer in den USA in Jobs arbeitet, in denen „tips“ die Regel sind, kriegt deutlich weniger Mindestlohn. Das kann bis auf knapp zwei Dollar die Stunde heruntergehen. Trinkgeld-freie Berufe zahlen dagegen als Minimum gesetzlich verankerte 7,25 Dollar. In der Gastronomie führt das dazu, dass „tips“ oft den Hauptbestandteil des Einkommens generieren. Jackie (35), eine Serviererin im Restaurant „Little Beast“ im Nordwesten Washingtons, kommt derzeit an lauen Spätsommerabenden auf 200 bis 250 Dollar extra. Das sind bei einer Fünftage-Woche zwischen 1000 und 1250 Dollar außer der Reihe, im Monat 4000 bis 5000 $; steuerfrei. Hört sich nach viel an. Zieht man die zu 100 Prozent selbst zu tragenden Kosten für Krankenversicherung und private Rente ab, die in anderen Berufen vom Arbeitgeber anteilig getragen werden, sieht die Sache schon anders aus. „Ohne Trinkgeld kann ich mein Leben und das meiner achtjährigen Tochter nicht finanzieren“, sagt Jackie.
Trinkgeld aus Scham
Befürworter behaupten, die digitalen Geldeinsammler seien nur die moderne Fortführung der klassischen Gurkengläser mit Schlitz im Deckel, die vielerorts auf den Tresen als „tip jar“ stehen, um Geldstücke und Scheine aufzunehmen. Michael Lynn, der Forscher, sagt, das stimme nicht ganz. Weil jeder Umherstehende aber auch der bedienende Angestellte jederzeit mit einem Schlenker auf den Bildschirm sehen könne, ob ein Kunde beim Trinkgeldgeben großzügig und knickerig war, entstehe eine Erwartungshaltung.
Aus Scham höheres Trinkgeld
Aus Scham, beim Knausern erwischt zu werden, drückten viele Kunden die Taste mit den höheren Prozentanteilen. Und zwar auch dann, wenn die vorher gelieferte Leistung nur medioker war. Ein Teil des Problems, sagen Analysten, könnte sich in Zukunft von selbst erledigen, wenn sich die Technologie der Roboter-Kellner etablieren sollte. Firmen wie „Bear Robotics“ in Kalifornien oder “Richtech Robotics“ in Texas haben für Preise um die 15 000 $ das Stück digitale Diener gebaut, die ohne zu murren Gäste an ihren Tisch geleiten, die Bestellung aufnehmen und später die leer gegessenen Teller in die Küche schleppen. Sie können rund um die Uhr arbeiten. Und sie werden nicht schnippisch, wenn - Siehe oben - das Trinkgeld geringer ausfällt als erwartet.
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