Stocker in Belgrad: Serbische EU-Annäherung trotz anhaltender Proteste

Kanzler Christian Stocker bei Serbiens Präsidenten Vucic in Belgrad
Wenn hochrangige Gäste anreisen, inszeniert Serbiens Präsident Aleksandar Vučić gerne große Bilder: Empfang auf dem Rollfeld unter dem Getöse staatlicher Medien, für den Konvoi abgesperrte Autobahnen, ein Fahnenmeer in der Hauptstadt.
Zuletzt konnte Vučić zwar kaum ausländische Regierungschefs im Land empfangen. Doch am Mittwoch wehten in Belgrad neben serbischen auch österreichische Flaggen: Nach seinem Aufenthalt in Montenegro reiste Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) weiter nach Serbien.
Wie zuvor in Podgorica stand auch diesmal die EU-Beitrittsperspektive sowie eine vertiefte wirtschaftliche Zusammenarbeit auf der Agenda. Denn: Wien und Brüssel wollen Serbien in der Europäischen Union sehen. Das Land ist seit 2012 Beitrittskandidat, seit 2014 laufen die Verhandlungen.
"Kernanliegen unserer Außenpolitik"
Eine glaubwürdige Beitrittsperspektive Serbiens und der gesamten Region sei "ein Kernanliegen unserer Außenpolitik", erklärte Stocker auf einer Pressekonferenz. Die Staaten des Westbalkan gehören „untrennbar zur europäischen Familie“. Er befürworte die Eröffnung des nächsten Verhandlungsclusters in den Beitrittsgesprächen und spricht sich auch für eine graduelle Integration vor dem Vollbeitritt aus.
Die Region müsse vor „Destabilisierungsversuchen Dritter" geschützt werden, betont er. Nötig seien jedoch Reformen – auch im festgefahrenen Belgrad-Pristina-Dialog mit der seit 2008 unabhängigen früheren serbischen Teilrepublik Kosovo. Denn der Weg in die Europäische Union "ist keine Einbahnstraße". Zudem unterzeichnete Stocker ein Abkommen über vertiefe wirtschaftliche Zusammenarbeit, etwa in den Bereichen Biomasse, Wasserkraft und Infrastruktur.
Politisch aufgeheizte Phase
Stockers Besuch fällt in eine politisch aufgeheizte Phase. Seit neun Monaten erlebt Serbien die längsten Massenproteste seiner Geschichte. Was als Studentenbewegung begann, ist längst zu einem Kampf gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit von breiten Teilen der Bevölkerung und der serbischen Diaspora geworden.
Auslöser war der Einsturz des frisch renovierten Bahnhofsvordaches in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt des Landes, im November 2024, der 16 Menschenleben forderte. Die Demonstranten fordern lückenlose Aufklärung, eine Offenlegung aller Bauverträge – und mittlerweile offen Neuwahlen. Täglich finden im Schnitt 50 Protestaktionen im Land statt, sagt Vukosava Crnjanski von der serbischen Medienbeobachtungsorganisation CRTA. „Niemand hätte geglaubt, dass so etwas möglich ist.“
800 Inhaftierungen seit Jänner
Vučić reagiert darauf mit Gewalt und Verhaftungen. Mit seiner Partei verbundene Schlägertrupps gehen gegen die Demonstranten brutal vor. Laut CRTA wurden seit Jänner rund 800 Personen inhaftiert. Einige Personen seien laut der Organisation wegen Störung der öffentlichen Ordnung und wegen eines versuchten Staatsstreichs angeklagt, darunter Studenten im Exil in Kroatien.
Auf der gemeinsamen Pressekonferenz bezeichnete Vučić die Proteste als „gesetzeswidrig“ und „gewaltsam“. Die Forderung nach Neuwahlen wies er brüsk zurück: Darüber entschieden weder „österreichische Journalisten“ noch die Demonstranten. Eine - verfassungswidrige - dritte Amtszeit strebe er nicht an. Seine Karriere als Präsident werde er in einem Jahr beenden. Denn er würde „im Leben nicht die Verfassung ändern. Ich bin kein Diktator wie man mich darstellt – vor allem in österreichischen Medien", betonte er.
Zunehmend autoritär
Vučić ist mit seiner nationalistisch-populistische Fortschrittspartei SNS seit 2012 an der Macht. Seitdem geht er immer autoritärer vor, bringt Gerichte und Medien zunehmend unter Kontrolle. Wahlen in Serbien sind laut Beobachtern nicht frei. Obwohl er als Präsident laut Verfassung eigentlich nur repräsentative Aufgaben hat, hält er alle Fäden in der Hand. „Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen der Partei und dem Staat“, sagt Raša Nedeljkov von CRTA.
International kann der Machthaber noch immer auf Unterstützung zählen. Er schließt Deals mit der EU, unterhält exzellente Beziehungen zu Moskau, holt sich große chinesische Investoren ins Land. Nemanja Nenadić von Transparency Serbia spricht von „legalisierter Korruption für öffentliche Infrastrukturprojekte ohne Wettbewerb durch zwischenstaatliche Abkommen oder spezielle Gesetze wie etwa für die Expo 2027“.
Die internationale Reaktion - auch aus Europa - auf die Politik Vučićs und die Proteste im Land bleibt verhalten – sehr zum Unmut vieler Serben. CRTA fordert mehr Druck: "Wir erwarten von der internationalen Gemeinschaft, dass sie nicht europäische Grundwerte gegen Rechtsstaatlichkeit eintauschen für Handel, bilaterale wirtschaftliche Abkommen und Zusammenarbeit bei der Migration." Und: „Wir wollen, dass die europäischen Nationen viel lautstarker an der Seite der serbischen Bürger stehen und nicht an der Seite des Regimes.“
In Hinblick auf die EU-Beitrittsgespräche sagte Vučić, er könne nicht garantieren, dass neue Kapitel eröffnet würden.
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