Die "große" Sowjetarmee – und ihre Lügen

Die "große" Sowjetarmee – und ihre Lügen
Im heutigen Russland wird die Armee wie unter Sowjet-Zeiten von der Führung glorifiziert. Doch die Realität sah oft anders aus. Der KURIER erinnert sich an Begegnungen mit Sowjet-Soldaten.

von Jana Patsch

"Als ich für die Ausbildung zum Panzerfahrer auserkoren wurde, hielt ich das für eine Auszeichnung. Ich war 22 Jahre alt und Grundwehrdiener. 1984 wurde ich für die sowjetische Armee in der damaligen Tschechoslowakei stationiert", erzählt Wolodymyr D. Der Ukrainer lebt heute als Flüchtling in Wien. Seine Erinnerungen zeichnen ein nüchternes Bild vom angeblich großen Heer.

"Dass wir in der Tschechoslowakei gar nicht willkommen waren, wurde mir erst vor Ort in Böhmen bewusst“, setzt der rüstige Pensionist fort. "Ich wurde als russischer Okkupant angesehen. Ältere Offiziere, die schon 1968 beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts unter sowjetischen Kommando dabei waren, haben uns aufgeklärt. Über die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings hatten wir in der Sowjetunion nie etwas erfahren."

Der Auslandseinsatz war ein Privileg: Es gab mehr Sold, bessere Uniformen und Verpflegung. Die Soldaten bekamen Süßigkeiten, die sie in der Ukraine nie gesehen hatten. "Ich habe mir von einem russischen Kameraden mit einer ganz normalen Feder ein Tattoo stechen lassen: den Kopf eines Panzerfahrers mit den Buchstaben ZGW für Zentralnaja Grupa Vojsk. Die unprofessionelle Behandlung hatte Folgen: Die Wunde hat sich entzündet und schrecklich weggetan, aber ich war stolz dazuzugehören."

Das Gespräch mit Wolodymyr D. war meine bisher letzte bemerkenswerte Begegnung mit einem "russischen Soldaten", von denen viele oft nicht aus Russland stammten. Meine nachhaltigste Erfahrung mit ihnen war die Besetzung der ČSSR im Jahr 1968. Mit den "Russen" konnten wir uns verständigen, und wir staunten, dass die Eindringlinge oft gar nicht wussten, in welchem Land sie sich befinden und gegen wen sie im Einsatz stehen. Infolge der Invasion sind 450.000 Tschechen und Slowaken emigriert, so wie vor Kurzem Wolodymyr D. seine Heimat, die Ukraine, verlassen musste.

Die "große" Sowjetarmee – und ihre Lügen

Archivfoto Prager Frühling: In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 rücken Truppen von fünf Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakische Sozialistische Republik ein.

Die Okkupation der ČSSR dauerte knapp 23 Jahre. 75.000 Sowjet-Armisten lebten samt ihren Familienangehörigen isoliert mit komplett eigener Infrastruktur, von Ballettschule über Theater bis zur Salzgurken-Fabrik. Die Besatzer hielten sich nicht an die Gesetze des Landes und verursachten enorme Umweltschäden.

Zurück nach Hause – ins Chaos

Ihr Abzug dauerte fast drei Jahre. Die unfreiwilligen Gastgeber zahlten für die Abziehenden die Transportkosten für Personal und Gerät, aber nur bis zur nächsten russischen Grenze. Gleichzeitig wurden Sowjets auch aus der DDR und Ungarn nach Hause geschickt. In Russland war niemand auf diesen Ansturm vorbereitet. Im Land herrschten Chaos und Anarchie als Nachwehen der Ära von Boris Jelzin. Für die Soldaten war es ein tiefer Fall.

Ich habe die Gestrandeten 1991 in Baltisk, dem ehemaligen Pillau in Kaliningrad (Königsberg), gesehen und bedauert. Obwohl die Hafenstadt  30.000 Zivilisten und 10.00 Militärs zählte, dominierten im Straßenbild die Uniformen. Mangels anderer Bekleidung trugen auch Reservisten die alten Monturen. Den Kindern wurden aus der Soldatentracht Hosen zugeschnitten. "Warum hilft uns Europa nicht, Wohnungen zu bauen?", fragte mich damals der völlig überforderte Bürgermeister. Die Offiziere hausten in ausrangierten Schiffen und Containern.

Die "große" Sowjetarmee – und ihre Lügen

Die Okkupation der ČSSR dauerte knapp 23 Jahre.

Bettler, Schmuggler, Prostituierte

Erbärmlich auch das Bild der Soldaten in Murmansk rund um den Bahnhof. Die mageren Jungen in zerfranste Hemden bettelten mit ausgestreckten Händen und entzündetem Zahnfleisch infolge von Mangelernährung um Essen. Sie bekamen keinen Sold. Viele Offiziere hatten Zweit-Jobs, schmuggelten Benzin, Lebensmittel und Waffen.

Im Garnisonsstädtchen Roslakowo, 300 km nördlich des Polarkreises, mussten 12.000 Soldaten zwei Winter lang ohne Heizung auskommen, weil niemand die Kessel flickte. Darüber berichteten die Lokalzeitungen ebenso wie über uniformierten Wilderer, die mit schweren Waffen auf die Pirsch gingen.

"Wollen Sie genießen?", sprach mich auf der Twerskaja-Straße in Moskau ein junger Mann in Uniform an. Soldatenprostitution war eine nicht seltene Einnahme-Quelle.

Die "große" Sowjetarmee – und ihre Lügen

Auch heute wird die Armee in Russland glorifiziert: Auf einem Plakat wird das Porträt des russischen Soldaten Iwan Murai, der während der militärischen Sonderoperation in der Ukraine starb, in der Stadt Podolsk außerhalb von Moskau gezeigt. Der Slogan auf dem Plakat lautet "Ruhm für die Helden von Podolsk".

Die Sowjet-Armee, die zweitgrößte Atommacht der Welt, stand vor dem totalen technischen und moralischen Verfall. Der neue Staatschef Wladimir Putin, der gern in der Uniform eines Obersts auftrat, wollte 2001 sogar die Wehrpflicht abschaffen.

Im Krieg gefallen

"Fracht 200" – so hießen die gefürchteten Transporte mit den Zinksärgen der gefallenen Soldaten aus dem Tschetschenienkrieg, die den Angehörigen zugestellt wurden. Ich habe die Mutter eines Toten unweit von Moskau besucht. Sie erhielt die Leiche ihres Sohnes ohne Kopf. So wollte sie ihn nicht begraben.

Die verzweifelte Frau reiste nach Grozny und machte den zuständigen Kommandanten ausfindig. Der Rebellenführer klärte sie auf: "Ihr Sohn hätte am Leben bleiben können, wenn er zum Islam übergetreten wäre." Aber er trug ein Kreuz am Halskettchen. Für viel Geld wurde der Frau letztlich das abgeschlagene Haupt im Plastiksack übergeben. Sie brachte es nach Hause und bestattete es. Als diese Geschichte publik wurde, begannen Gläubige zum Grab des "Märtyrers" zu pilgern. Der orthodoxe Heilige Synode wollte den russischen Soldaten kanonisieren.

Nachdenklich stimmte mich die Begegnung mit einem Veteranen des Zweitem Weltkriegs am Rande des Feiern zum 60. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland in Moskau. Der etwas klapprige, aber hochdekorierte alte Mann reagierte erfreut, als er hörte, dass ich Österreicherin bin. "Ich war unter den Ersten, die 1945 Wien befreiten. Bis heute warte ich darauf, dass mich die Österreichische Botschaft als Anerkennung zum Tee einlädt."

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