Der Auslandseinsatz war ein Privileg: Es gab mehr Sold, bessere Uniformen und Verpflegung. Die Soldaten bekamen Süßigkeiten, die sie in der Ukraine nie gesehen hatten. "Ich habe mir von einem russischen Kameraden mit einer ganz normalen Feder ein Tattoo stechen lassen: den Kopf eines Panzerfahrers mit den Buchstaben ZGW für Zentralnaja Grupa Vojsk. Die unprofessionelle Behandlung hatte Folgen: Die Wunde hat sich entzündet und schrecklich weggetan, aber ich war stolz dazuzugehören."
Das Gespräch mit Wolodymyr D. war meine bisher letzte bemerkenswerte Begegnung mit einem "russischen Soldaten", von denen viele oft nicht aus Russland stammten. Meine nachhaltigste Erfahrung mit ihnen war die Besetzung der ČSSR im Jahr 1968. Mit den "Russen" konnten wir uns verständigen, und wir staunten, dass die Eindringlinge oft gar nicht wussten, in welchem Land sie sich befinden und gegen wen sie im Einsatz stehen. Infolge der Invasion sind 450.000 Tschechen und Slowaken emigriert, so wie vor Kurzem Wolodymyr D. seine Heimat, die Ukraine, verlassen musste.
Die Okkupation der ČSSR dauerte knapp 23 Jahre. 75.000 Sowjet-Armisten lebten samt ihren Familienangehörigen isoliert mit komplett eigener Infrastruktur, von Ballettschule über Theater bis zur Salzgurken-Fabrik. Die Besatzer hielten sich nicht an die Gesetze des Landes und verursachten enorme Umweltschäden.
Zurück nach Hause – ins Chaos
Ihr Abzug dauerte fast drei Jahre. Die unfreiwilligen Gastgeber zahlten für die Abziehenden die Transportkosten für Personal und Gerät, aber nur bis zur nächsten russischen Grenze. Gleichzeitig wurden Sowjets auch aus der DDR und Ungarn nach Hause geschickt. In Russland war niemand auf diesen Ansturm vorbereitet. Im Land herrschten Chaos und Anarchie als Nachwehen der Ära von Boris Jelzin. Für die Soldaten war es ein tiefer Fall.
Ich habe die Gestrandeten 1991 in Baltisk, dem ehemaligen Pillau in Kaliningrad (Königsberg), gesehen und bedauert. Obwohl die Hafenstadt 30.000 Zivilisten und 10.00 Militärs zählte, dominierten im Straßenbild die Uniformen. Mangels anderer Bekleidung trugen auch Reservisten die alten Monturen. Den Kindern wurden aus der Soldatentracht Hosen zugeschnitten. "Warum hilft uns Europa nicht, Wohnungen zu bauen?", fragte mich damals der völlig überforderte Bürgermeister. Die Offiziere hausten in ausrangierten Schiffen und Containern.
Bettler, Schmuggler, Prostituierte
Erbärmlich auch das Bild der Soldaten in Murmansk rund um den Bahnhof. Die mageren Jungen in zerfranste Hemden bettelten mit ausgestreckten Händen und entzündetem Zahnfleisch infolge von Mangelernährung um Essen. Sie bekamen keinen Sold. Viele Offiziere hatten Zweit-Jobs, schmuggelten Benzin, Lebensmittel und Waffen.
Im Garnisonsstädtchen Roslakowo, 300 km nördlich des Polarkreises, mussten 12.000 Soldaten zwei Winter lang ohne Heizung auskommen, weil niemand die Kessel flickte. Darüber berichteten die Lokalzeitungen ebenso wie über uniformierten Wilderer, die mit schweren Waffen auf die Pirsch gingen.
"Wollen Sie genießen?", sprach mich auf der Twerskaja-Straße in Moskau ein junger Mann in Uniform an. Soldatenprostitution war eine nicht seltene Einnahme-Quelle.
Die Sowjet-Armee, die zweitgrößte Atommacht der Welt, stand vor dem totalen technischen und moralischen Verfall. Der neue Staatschef Wladimir Putin, der gern in der Uniform eines Obersts auftrat, wollte 2001 sogar die Wehrpflicht abschaffen.
Im Krieg gefallen
"Fracht 200" – so hießen die gefürchteten Transporte mit den Zinksärgen der gefallenen Soldaten aus dem Tschetschenienkrieg, die den Angehörigen zugestellt wurden. Ich habe die Mutter eines Toten unweit von Moskau besucht. Sie erhielt die Leiche ihres Sohnes ohne Kopf. So wollte sie ihn nicht begraben.
Die verzweifelte Frau reiste nach Grozny und machte den zuständigen Kommandanten ausfindig. Der Rebellenführer klärte sie auf: "Ihr Sohn hätte am Leben bleiben können, wenn er zum Islam übergetreten wäre." Aber er trug ein Kreuz am Halskettchen. Für viel Geld wurde der Frau letztlich das abgeschlagene Haupt im Plastiksack übergeben. Sie brachte es nach Hause und bestattete es. Als diese Geschichte publik wurde, begannen Gläubige zum Grab des "Märtyrers" zu pilgern. Der orthodoxe Heilige Synode wollte den russischen Soldaten kanonisieren.
Nachdenklich stimmte mich die Begegnung mit einem Veteranen des Zweitem Weltkriegs am Rande des Feiern zum 60. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland in Moskau. Der etwas klapprige, aber hochdekorierte alte Mann reagierte erfreut, als er hörte, dass ich Österreicherin bin. "Ich war unter den Ersten, die 1945 Wien befreiten. Bis heute warte ich darauf, dass mich die Österreichische Botschaft als Anerkennung zum Tee einlädt."
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