Friedensnobelpreisträgerin Matwijtschuk: "Russland kam zu lange straffrei davon“

Oleksandra Matwijtschuk (39), Chefin des Center for Civil Liberties, ist wohl die bekannteste ukrainische Bürgerrechtlerin. Sie und ihr Team bekamen für ihr Engagement 2022 den Friedensnobelpreis - im Interview in der Bibliothek des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen spricht sie über die Perspektive, auch Putin hinter Gitter zu bekommen, die Schwierigkeiten, in einer Zeit voller Desinformation die Wahrheit zu finden und die "emotionalen Schützengräben" ihrer Landsleute.
KURIER: Sie untersuchen russische Kriegsverbrechen seit 2014. Ist es nicht unheimlich schwierig und frustrierend, Täter aus einem Land zu verfolgen, das nicht kooperiert?
Oleksandra Matwijtschuk: Ja, das ist es. Ich bin Anwältin, ich glaube an das Recht – nur seit 2014 funktioniert es nicht. Seit damals habe ich unzählige Berichte über illegale Gefängnisse und politische Verfolgungen an die UNO, die OSZE, die EU geschickt – nichts hat sich geändert. Wir leben in der Illusion, dass das internationale System für Frieden und Sicherheit funktioniert. Wir müssen etwas ändern.
Was müsste sich ändern?
Russland kam zu lange straffrei davon. Russische Truppen waren in Tschetschenien, Georgien, Moldau, Syrien, Libyen, Mali für Kriegsverbrechen verantwortlich, und sie wurden nie bestraft. Deshalb richten sie in der Ukraine jetzt dasselbe an. Die Russen machen das nur, weil sie können – und weil man sie lässt.
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Das UN-System gehört grundlegend verändert. Es wurde im letzten Jahrhundert von den Siegermächten erdacht, es begünstigt Russland, die USA oder China zu sehr. Die UN-Architektur mit ihren vielen Vorschriften funktioniert nur in Friedenszeiten. In Kriegszeiten verhindert sie, dass Menschenleben gerettet werden.
Die von Ihnen dokumentierten Verbrechen sind teils extrem grausam. Haben Sie eine Erklärung für diese Gewalt?
Meine Hypothese: Wer nicht bestraft wird, macht es immer wieder. Während wir uns mit den Worten „Nie wieder“ an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnern, feiert Russland seit Jahrzehnten mit dem Motto „Wir können die Geschichte wiederholen“ – das Nazi-Regime wurde für seine Verbrechen bestraft, die Sowjetunion für ihre Gulags nicht. Russland hat seine Lektion nie gelernt. Deshalb glauben russische Soldaten, sie haben das Recht, Zivilisten umzubringen.
Haben Sie Kontakt nach Russland? Gibt es Institutionen, die Ihnen helfen?
Die Mehrheit der Russen unterstützt den Krieg. Aber es gibt eine kleine Minderheit, Menschenrechtler, von denen viele geflohen sind oder sich auf die Haft vorbereiten – mit ihnen sind wir seit Jahren in Kontakt. Das sind äußerst tapfere Menschen. Sie kämpfen nicht nur gegen das System Putin, sondern auch gegen die öffentliche Meinung. Ihretwegen können die Russen nie sagen, sie wüssten nicht, was vor sich geht.
Oleksandra Matwijtschuk, geboren im Jahr 1983, ist Vorstandsvorsitzende des Center for Civil Liberties und erhielt im Vorjahr gemeinsam mit der russischen NGO Memorial und dem belarussischen Bürgerrechtler Ales Bjaljazki den Friedensnobelpreis. Die Anwältin interviewte seit 2014 Menschen in den von Russland besetzten Gebieten, dokumentierte illegale Haftanstalten, Folter und Verschleppungen. Derzeit geht sie mit ihrem 20-köpfigen Team russischen Kriegsverbrechen nach.
Matwijtschuk hielt am Dienstag auf Initiative der ERSTE Stiftung, des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und der Wiener Festwochen die "Rede an Europa" am Wiener Judenplatz - der erste inoffizielle Programmpunkt der diesjährigen Festwochen.
Im Westen gibt es viel Desinformation über den Krieg. Wie gehen damit um, dass es in Kriegszeiten schwer ist, zwischen wahr und erfunden zu unterscheiden?
Auch bei uns waren viele Menschen jahrelang russischer Propaganda ausgesetzt, das hat sich auch nach 2014 erst langsam geändert. Deshalb glaubten viele die Geschichten, dass die Ukrainer ihre eigenen Gebäude beschossen haben. Darum können wir uns auf viele Informationen nicht verlassen: Selbst wenn die Menschen nicht lügen, wissen sie es oft nicht besser. Wir müssen alle Verbrechen von mehreren Quellen bestätigen lassen.
Untersuchen Sie auch Kriegsverbrechen durch die ukrainischen Streitkräfte?
Ja, wir untersuchen alles. Es darf keinen Unterschied geben zwischen einem Verbrechen und dem anderen, da müssen wir ehrlich sein. Aber: Die große Mehrheit der Täter in unserer Datenbank sind Russen. Es sind nämlich keine Einzelfälle, sondern bewusste Politik Russlands: Man nutzt Kriegsverbrechen, um Angst zu säen. So will man den Widerstand der Menschen brechen.

Ich war im Februar in Kiew und hatte den Eindruck, der Krieg stark nagt stark am Willen der Bevölkerung. Geht es Ihnen auch so?
Wir sind in einem konstanten Auf und Ab. Eine Freundin von mir nannte das „emotionaler Schützengraben“. Ich verwende das auch: Ich bin nicht niedergeschlagen, sondern im Schützengraben – dort erhole ich mich und kehre in den Kampf zurück. Man kann nicht über so lange Zeit mit derselben Kraft kämpfen. Aufhören wird darum aber niemand: Denn hören wir auf, gibt es uns nicht mehr.
Der Internationale Strafgerichtshof hat Putin angeklagt – denken Sie, er wird tatsächlich vor Gericht stehen?
Ich habe keinen Zweifel daran. Ich habe sogar eine Vorstellung davon: Ich werde mein schönstes Kleid anhaben und roten Lippenstift tragen, ich werde mich wie eine Siegerin fühlen. Denn wir kämpfen nicht aus Rache, sondern für Gerechtigkeit.
Sie sagten mal, der Krieg werde nicht zwischen zwei Staaten, sondern zwischen dem autoritären und dem demokratischen System geführt. Kann es je wieder eine Basis zwischen der Ukraine und Russland geben?
Ja, wenn Russland den Krieg verliert. Nur das würde die Menschen verstehen lassen, dass es nicht normal ist, Länder zu überfallen, zu okkupieren, zu morden. Russland muss seinen Ruhm auf etwas anderem aufbauen als auf dem Versprechen eines neuen Imperiums – nur eine Niederlage kann dem Land Demokratie bringen.
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