Warum Putin den bestgeschützten Teil der Ukraine attackiert

Eigentlich hatten sich die Bewohner der Hauptstadt seit dem Rückzug der Russen im Frühjahr 2022 einigermaßen in Sicherheit wiegen können. Kiew war so gut geschützt wie kein anderer Teil der Ukraine, die Patriot-Abwehrsysteme fingen fast alle Raketen aus dem Osten ab.
Seit einiger Zeit hat sich die Lage aber geändert. Seit diesem Sommer verfolgt Moskau eine neue Strategie, man feuert nicht nur gezielt auf Kiew, sondern schickt Raketen und Drohnen im massivem Umfang. Seit Juni gab es allein acht Angriffe mit mehr als 400 Drohnen; in der Nacht auf Sonntag schwirrten sogar 800 Fluggeräte Richtung Kiew, so viele wie noch nie seit Kriegsbeginn. Erstmals wurde dabei auch ein zentrales Regierungsgebäude in der Hauptstadt angegriffen, der Sitz von Premierministerin Julija Swyrydenko. Er befindet sich direkt neben der Rada und dem Marienpalast, der zeremonielle Residenz von Präsident Selenskij.
"Das galt bislang als rote Linie"
Dass punktgenau öffentliche und zivilen Einrichtungen angegriffen werden – auch ein Wohnhaus wurde attackiert, eine Mutter mit zweimonatigem Baby starb – , sendet natürlich ein Signal. Erst kürzlich hatte die russische Armee Gebäude der EU und des British Council attackiert, wohl auch gezielt. Für die Ukraine ist das gerade angesichts der Friedensbemühungen der USA ein Zeichen einer „bewussten, ernsten Eskalation“, wie Außenminister Andrij Sybiha sagte. Auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sah das so: „Putin will den Krieg immer weiter eskalieren und ist zu keiner diplomatischen Lösung bereit. Das beweist auch der Angriff auf das Regierungsgebäude, was bislang als rote Linie galt“, sagte er zur Bild.
Denkbar ist, dass die russische Attacke dem Kreml als Antwort auf Wolodimir Selenskijs Aussage diente, Wladimir Putin solle doch bitte nach Kiew kommen, um zu verhandeln. Er selbst könne nicht nach Moskau reisen, wenn sein Land jeden Tag mit Bomben überzogen werde, hatte der ukrainische Präsident am Samstag in einem US-TV-Interview gesagt.
Psychologischer Druck
Die Riesenmenge an russischen Drohnen und Raketen hat aber freilich auch militärische Strategie. Der „Drohnenregen“ speziell auf Kiew soll psychologischen Druck aufbauen, sagen Experten: Angriffe auf die Hauptstadt eines Landes würden international immer anders wahrgenommen werden als Attacken auf die Peripherie eines Landes, so Oleksandr Musiienko, Chef des Center for Military Law Research in Kiew. Nicht umsonst hätten die Nazis im Zweiten Weltkrieg speziell London angegriffen. Kiew gilt zudem als besonders gut geschützt, heftige Angriffe sollen die dortige Bevölkerung demoralisieren einen „Dominoeffekt“ auslösen, der sich dann auf andere Regionen und Städte übertragen solle.
Dazu, so die Logik der russischen Streitkräfte, soll die Menge an Attacken die Luftabwehr der Ukraine überwältigen und damit den Vorrat an Abfangraketen minimieren. Da die Ukraine dabei noch immer stark auf die Hilfe aus dem Westen angewiesen ist, ist das ein wunder Punkt.
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