Kiew treibt Gegenoffensive voran, Russland verkündet Angriffe bei Charkiw
Tag 200 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Nach ihrer Niederlage im ostukrainischen Gebiet Charkiw ziehen sich russische Truppen Angaben aus Kiew zufolge auch aus Teilen des südlichen Gebiets Cherson zurück. In einigen Orten hätten die Besatzer dort bereits ihre Positionen verlassen, teilte der ukrainische Generalstab am Sonntagabend mit. In der Stadt Nowa Kachowka hätten die russischen Soldaten ein Krankenhaus geräumt, um sich darin nun selbst zu verschanzen, hieß es weiter.
Unabhängig überprüft werden konnten diese Angaben nicht. Von russischer Seite gab es zunächst keine Reaktion.
Die ukrainischen Streitkräfte haben nach Angaben der Heeresleitung seit Anfang September mehr als 3000 Quadratkilometer russisch besetzten Gebiets zurückerobert und weiten ihre Offensive vom Großraum Charkiw in Nordosten des Landes aus. Geländegewinne habe es vor allem um die zweitgrößte ukrainische Stadt gegeben, wo die Streitkräfte bis zu 50 Kilometer an die russische Grenze herangerückt seien.
Das teilte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, am Sonntag mit. Ausgehend von der Großstadt komme das ukrainische Militär auch Richtung Süden und Osten voran. "Von Charkiw aus sind wir nicht nur Richtung Süden und Osten vorgerückt, sondern auch nach Norden", erklärte Saluschnyj auf Telegram. "Es sind noch 50 Kilometer bis zur Landesgrenze" zu Russland.
3000 Quadratkilometer würden mehr als die Fläche Vorarlbergs (2600 km2) ausmachen.
Nach den Vorstößen der ukrainischen Armee warnt Verteidigungsminister Olexij Resnikow vor möglichen Gegenangriffen der russischen Seite. Die Ukraine müsse die zurückeroberten Gebiete sichern, sagt Resnikow der Financial Times. Die ukrainischen Truppen seien nach ihrer Offensive zwar erschöpft, die Moral sei jedoch gut.
Russland vermeldet gezielte Angriffe
Die russischen Streitkräfte greifen nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums Stellungen der ukrainischen Truppen in der Region Charkiw präzise an. Die Angriffe erfolgten durch Luftlandetruppen, Raketen und Artillerie, teilte das Ministerium am Sonntag in sozialen Medien mit. Eine unabhängige Überprüfung der Angaben war der Agentur Reuters nicht unmittelbar möglich.
Aus der Region Charkiw, dem Schauplatz der ukrainischen Gegenoffensive, sind nach russischen Angaben binnen 24 Stunden "tausende" Menschen nach Russland geflohen. "Das war nicht die einfachste Nacht, das war nicht der einfachste Morgen", sagte der Gouverneur der an die Ukraine grenzenden russischen Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, am Sonntag per Video im Onlinedienst Telegram. In den vergangenen 24 Stunden hätten "tausende Menschen die Grenze überquert".
Die meisten Menschen, die in der Region Belgorod die Grenze überquert hätten, seien "in ihren eigenen Fahrzeugen zu ihren Verwandten" in Russland gefahren, sagte Gladkow. Aktuell seien 1342 Menschen in 27 provisorischen Unterkünften in der Region untergebracht. Anders als in der Nacht gebe es inzwischen keine langen Warteschlangen mehr an der Grenze.
Ukrainische Offensive
Nach erfolgreichen ukrainischen Gegenangriffen ziehen sich die russischen Truppen offenbar auch aus dem nördlichen Teil des Charkiwer Gebiets zurück. Medienberichten vom Sonntag nach hissten Einwohner in der Ortschaft Kosatscha Lopan, 30 Kilometer nördlich der Metropole Charkiw, die ukrainische Flagge. Zuvor hatten die russischen Einheiten den knapp vier Kilometer von der russischen Grenze entfernten Ort verlassen, der zu Beginn des russischen Angriffskrieges Ende Februar besetzt worden war.
Am Samstag hatte Moskau bereits den Rückzug von Truppen aus strategischen Städten im Süden des Gebiets Charkiw bekannt gegeben. Offiziell begründete Moskau den Abzug damit, dass Einheiten im angrenzenden Gebiet Donezk verstärkt werden sollen. Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass die Russen angesichts des ukrainischen Vorstoßes im Charkiwer Gebiet zuletzt so stark unter Druck geraten sind, dass sie sich zur Flucht entschieden haben.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj pries den russischen Rückzug aus der Stadt Isjum gut 120 Kilometer südöstlich von Charkiw als Durchbruch in dem seit sechs Monaten andauernden russischen Angriffskrieg. Dieser Winter könne weitere schnelle Geländegewinne bringen für die Ukraine, vor allem wenn die Streitkräfte weiterhin mit schweren Waffen versorgt würden. Der Fall von Isjum wäre die größte Niederlage für das russische Militär, seit sie aus dem Gebiet um die Hauptstadt Kiew zurückgeschlagen wurden.
"Ich glaube, dieser Winter ist der Wendepunkt, und er kann zur schnellen Befreiung der Ukraine führen", sagte Selenskyj am späten Samstagabend. "Wir sehen, wie sie in einige Richtungen fliehen", sagte der Präsident mit Blick auf die russischen Streitkräfte. "Wenn wir noch ein bisschen stärker mit Waffen wären, würden wir noch schneller vorankommen." Offiziell hat die ukrainische Regierung die Wiedereinnahme von Isjum bisher nicht verkündet. Aber Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak veröffentlichte auf Twitter ein Foto von ukrainischen Truppen vor der Stadt und fügte ein Trauben-Emoji hinzu, "Isjum" ist das ukrainische Wort für "Rosinen".
Der Militärexperte Oleh Schdanow sagte von Kiew aus, die Gewinne der Ukraine könnten den Weg ebnen in die Region Luhansk, die von Russland seit Anfang Juni gehalten wird. Luhansk, das zusammen mit der Region Donezk den industriell geprägten Donbass der Ukraine bildet, liegt rund 340 Kilometer südöstlich von Charkiw. Es war von Anfang an das erklärte Ziel Russlands, vor allem dieses Gebiet einzunehmen, das teilweise bereits seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert wird. "Wenn Sie sich die Karte anschauen, ist es logisch anzunehmen, dass sich die Offensive sich Richtung Swatowo, Starobelsk, Siewerodonezk und Lyssytschansk entwickelt", sagte Schdanow. "Das sind zwei vielversprechende Richtungen."
Laut US-Experten haben ukrainische Soldaten innerhalb von fünf Tagen mehr Gelände zurückgewonnen als die russischen Truppen insgesamt seit April besetzt haben. "Die Befreiung von Isjum wird der größte militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht vor Kiew im März", urteilte das Institute for the Study of the War (ISW) in seiner Lageanalyse am Sonntag. Damit sei der von Russland geplante Vormarsch auf den Donbass von Norden her gescheitert, meinten die Experten.
Auch nach Einschätzung des britischen Militärgeheimdienstes haben die ukrainischen Truppen in den vergangenen 24 Stunden bedeutende Fortschritte bei ihrer Gegenoffensive in der Region Charkiw im Osten gemacht. Das russische Militär habe wahrscheinlich Einheiten von dort abgezogen, heißt es im jüngsten Geheimdienstbericht. Allerdings hielten Kämpfe rings um die Städte Kupjansk und Isjum an.
Angesichts der Entwicklungen dringt die ukrainische Regierung zunehmend auf die weitere Lieferung schwerer Waffen aus dem Westen. Außenminister Dmytro Kuleba bekräftigte dies auch nach einem Treffen mit der deutschen Chefdiplomatin Annalena Baerbock am Samstagabend in Kiew. Die Gegenoffensive zeige, dass die Ukraine Russland besiegen könne, sagte Kuleba bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Baerbock. Je mehr Waffen die Ukraine erhalte, desto schneller werde sein Land gewinnen und der Krieg enden. Baerbock sicherte der Ukraine weitere militärische Hilfe zu, mit Blick auf die Gegenoffensive schloss sie dabei auch die Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart nicht aus.
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