Revolution mit Kettensäge: Wie Javier Milei Argentinien umkrempeln will
Der selbst ernannte „Anarchokapitalist“ Javier Milei wird neuer Präsident Argentiniens. Er will die Sozialausgaben massiv kürzen und den US-Dollar einführen. Aber kann er das überhaupt?
20.11.23, 16:27
Aus Buenos Aires Tobias Käufer
Um Mitternacht stieg die große Party am weltberühmten Obelisken. Dort, wo die Argentinier vor knapp einem Jahr den Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft feierten, versammelten sich nun Tausende, meist junge Menschen, um den Wahltriumph des libertären Ökonomen Javier Milei zu feiern.
„Libertad, Libertad“-Sprechchöre („Freiheit, Freiheit“) waren zu hören. Und dann Erstaunliches zu beobachten: die jungen Demonstranten begannen, ihren eigenen Müll wegzuräumen. "Wir wollen ein besseres Argentinien", rief einer der Feiernden. "Wir wollen, dass er das Land in Ordnung bringt", sagt Fernanda (19), die mit ihren Freundinnen Selfies von der historischen Nacht macht. "Es muss sich etwas ändern. Wir brauchen wieder eine Zukunft."
Die Milei-Wählerin bringt damit die Kernbotschaft des Wahlabends auf den Punkt: Vor allem die jungen Argentinier haben dem Wirtschaftswissenschaftler Javier Milei den Auftrag erteilt, den ökonomischen Sanierungsfall in Angriff zu nehmen.
Sieg gegen "Superminister" Sergio Massa
Mit einer Jahresinflation von 143 Prozent und einer Armutsrate von 40 Prozent übergibt die amtierende linksperonistische Regierung von Präsident Alberto Fernández und dessen Vor-Vorgängerin Cristina Fernández de Kirchner das Land am 10. Dezember in einem wirtschaftlich katastrophalen Zustand.
Der Versuch, mit dem vor über einem Jahr kurzfristig eingewechselten „Superminister“ Sergio Massa (Finanzen und Wirtschaft) als Präsidentschaftskandidaten die Macht zu retten, schlug fehl. Milei (55,69 Prozent) konnte mit fast elf Punkten Vorsprung vor Massa (44,30 Prozent) einen deutlicheren Erfolg einfahren als von den meisten Umfrageinstituten vorausgesagt.
Milei will den US-Dollar als Landeswährung einführen, aber doch keine Abschaffung der Zentralbank
Am Montag – einem Feiertag in Argentinien – gab es aus Mileis Umfeld bereits erste Fingerzeige: Staatliche Medien wie die bisher regierungsnahe Nachrichtenagentur TELAM oder TV Publico sollen ebenso privatisiert werden wie der Erdgas- und Erdölkonzern YPF. „Alles, was in den Händen der Privatwirtschaft sein kann, wird auch dort landen“, hieß es von Vertrauten am Montag. Milei will die Staatsausgaben massiv drücken, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren.
Der selbst ernannte „Anarchokapitalist“ will Staat und Wirtschaft entbürokratisieren und weitestgehend privatisieren. Er will den Peso abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, Sozialabgaben kürzen und Steuern senken. Um die radikalen Schnitte zu symbolisieren, hielt er im Wahlkampf mehrfach eine Kettensäge hoch. Von den Argentiniern bekam er für diesen schmerzhaften Weg die demokratische Legitimation.
Mit Blick auf die im Wahlkampf mehrfach geforderte Abschaffung der Zentralbank ruderte Milei aber bereits zurück. Am Montag machte erstmals die Formulierung einer „Neuordnung“ der Zentralbank die Runde. Auch das Bildungs- und Gesundheitswesen will er nun doch nicht antasten.
US-Dollar in Argentinien? "Das ist fast unmöglich"
Das umstrittenste Projekt bleibt daher die Dollarisierung. Sebastian Menescaldi, stellvertretender Direktor der Finanzberatungsfirma EcoGo, sagte vor der Stichwahl gegenüber argentinischen Medien, das Vorhaben sei „fast unmöglich, weil die Zentralbank keine US-Dollar hat“.
Finanzexperte Eugenio Mari Thomsen von der Stiftung „Libertad y Progreso“ (Freiheit und Fortschritt) in Buenos Aires hält strukturelle Reformen im Gespräch mit dem KURIER trotzdem für unbedingt notwendig: „Wenn es keine Kursänderung gibt, läuft Argentinien Gefahr, dass die Hyperinflation im Jahr 2024 ausbricht. Dies würde die Armutsquote auf über 60 Prozent ansteigen lassen. Und natürlich würde dies zu einer schweren Rezession führen.“
Außenpolitisch bietet sich Milei dem Westen als Partner an: „Ich sehe Argentinien an der Seite der USA, Israels und der freien Welt“, sagte Milei. In politische Schubladen lässt sich der Wahlsieger nicht recht einsortieren. Zu Beginn des Wahlkampfs sagte er zum KURIER: „Für mich sind individuelle Freiheit des Einzelnen, der Schutz des Privateigentums und der freie Handel die zentralen Elemente meiner Politik.“
Am Montag standen erste Gespräche zwischen dem noch amtierenden Präsidenten Fernández mit seinem Nachfolger an. Bisher konnte Milei aus der komfortablen Position des verbalen Angreifers die Wirtschaftspolitik im Land kritisieren. Ab Mitte Dezember muss er beweisen, dass seine Ideen auch tatsächlich zum Erfolg führen.
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