War es ukrainischer „Terror“ oder die eigene Luftabwehr? Im russischen Grenzland starben bei Angriffen 24 Menschen – den Kreml bringt das in Erklärungsnot.
Brennende Autos, verkohlte Körper, Menschen in Blutlachen. Man kennt die Bilder aus der Ukraine, wenn russische Bomben wieder einmal ein Stadtzentrum in Schutt und Asche gelegt haben.
Bei den Aufnahmen, die derzeit im Internet kursieren, ist aber etwas anders. Sie stammen aus Belgorod, einer Großstadt 25 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt – und zwar in Russland.
Am Samstag starben dort bei heftigen Explosionen zumindest 24 Menschen, etwa 100 wurden verletzt. Seither wird heftig debattiert, wer für die Attacke verantwortlich war – schließlich war es die tödlichste im eigenen Land seit Kriegsbeginn. Das Moskauer Verteidigungsministerium erklärte zwar recht rasch, dass „ukrainische Nazis“ für den „Terrorangriff gegen die Zivilbevölkerung“ verantwortlich seien, doch daran gibt es erhebliche Zweifel – und die nährt hauptsächlich der Kreml.
Die offiziellen Darstellungen darüber, was in Belgorod passiert ist, sind mehr als widersprüchlich. Moskau ebenso wie die Belgoroder Stadtverwaltung behaupteten zunächst, die Explosionen seinen durch herabfallende Trümmerteile nach dem Abschuss ukrainischer Raketen verursacht worden. „Unsere Luftverteidigung hat alle erwischt“, triumphierten die Behörden, kurz danach wurden die Meldungen jedoch wieder gelöscht. Dann hieß es, die Ukraine habe die Belgoroder Innenstadt ganz bewusst ins Visier genommen.
Der Schwenk war wohl der Angst geschuldet, den Zorn der eigenen Bevölkerung zu spüren zu bekommen. Denn Trümmer beim Abschuss feindlicher Raketen sollten tunlichst nicht dort abstürzen, wo Zivilisten sind – das wäre ein fatales Versagen der Streitkräfte, das auch der Kreml wohl lieber verschweigen würde.
Aus Kiewer Geheimdienstkreisen hieß es ebenso, die russische Luftabwehr habe „unprofessionell“ gehandelt und schiebe nun der Ukraine die Schuld zu. Das vermuteten auch Militäranalysten nach der Veröffentlichung der Bilder des Beschusses.
Dass Kiew zivile Ziele in einem derart großen Ausmaß bombardiert, wäre auch ein absolutes Novum seit Kriegsbeginn. Zwar ist die Region Belgorod seit Kriegsbeginn dutzendfach beschossen worden, allerdings haben ukrainische Drohnen „bisher ausschließlich Militärinfrastruktur oder Gebäude der Behörden angegriffen“, sagt der Osteuropaexperte Sergey Sumlenny. Die „Taktik der Schuldumkehr“ sei aber gängige Praxis, sagt er: Moskau habe schon mehrfach Wohngebiete im eigenen Land oder in den besetzten Gebieten attackiert – und danach Kiew dafür verantwortlich gemacht.
Irritationen rief auch hervor, dass Putin die Attacken bei seiner traditionellen Neujahrsansprache völlig unerwähnt ließ. Ohnehin war die TV-Rede heuer viel zurückgenommener als im Vorjahr: Da war der Kremlchef zwischen Soldaten gestanden, ganz Kriegsherr. Diesmal erwähnte er seinen Krieg gegen die Ukraine in keinem Wort.
Zur Sprache kam der Fall Belgorod erst am Neujahrstag, da besuchte Putin ein Militärkrankenhaus und schwor „Vergeltung“. Die bekamen ukrainische Zivilisten zu spüren: Elf Stunden lang überzog die russische Armee am Neujahrstag das ganze Land mit Bomben – selbst in der Westukraine, die seit Monaten von den russischen Angriffen verschont blieb, hagelte es Raketen.
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