Pressestimmen zu Nawalny: "Europas Proteste waren eingepreist"

Pressestimmen zu Nawalny: "Europas Proteste waren eingepreist"
Die internationale Presse verurteilt die Haft für den Kreml-Kritiker - und

Internationale Pressekommentare befassen sich am Mittwoch mit der umstrittenen Haftstrafe gegen den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny.

Die russische Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ etwa schreibt: „Die Bewährungsstrafe von Alexej Nawalny wurde in eine echte Haft umgewandelt. Es wird damit die erste richtige Gefängnisstrafe für den Oppositionsführer sein, der es bisher wie durch ein Wunder geschafft hat, sich eine richtige Haftstrafe zu ersparen. Allem Anschein nach hat sich Nawalnys Glück nur deshalb geändert, weil er sich Präsident Wladimir Putin direkt stellte. Es besteht kein Zweifel daran, dass es in früheren Zeiten stets die höchste Instanz war, die dem Oppositionellen eine Immunität gewährleistete. Wenn ihm das jetzt so eklatant verwehrt wird, bedeutet das, dass Nawalny jetzt in einer etwas anderen Funktion in die Pläne des Kremls passt.“

"Europas Proteste waren eingepreist"

„La Vanguardia“ (Barcelona): „Wladimir Putins Spielregeln unterscheiden sich stark von denen westlicher Demokratien. Während seiner langen Amtszeit hat er nie gezögert, Opposition zu unterdrücken, wenn sie versuchte, seine Macht zu gefährden. Ein russisches Gericht verurteilte gestern den Oppositionellen Alexej Nawalny zu dreieinhalb Jahren Gefängnis, der es gewagt hatte, nach einem Vergiftungsversuch nach Russland zurückzukehren. Die Proteste der USA und der EU ließen nicht lange auf sich warten, waren aber bereits eingepreist. Äußerungen, die Putin mit der gleichen Kälte wie immer quittierte. Im Augenblick der Wahrheit ist Russlands wirtschaftliche und politische Macht noch immer groß genug. So gelang es der russischen Medizin am selben Tag, an dem Nawalnys Urteil bekannt wurde, der Welt mitzuteilen, dass ihr Impfstoff Sputnik V gegen Corona eine Wirksamkeit von 91,6 Prozent aufweist. Russland bietet Europa eine Lösung in der Krise wegen der Probleme bei der Verteilung ihrer Impfstoffe an. Die Debatte über die Menschenrechte oder die Situation der Opposition in Russland wird in den Hintergrund treten. Putin wird sein Geschäft fortsetzen können.“

„Wall Street Journal“ (New York): „Eine Erkenntnis ist, dass Herr Putin und seine Gefolgschaft sich bedroht fühlen müssen. Die Proteste zur Unterstützung von Herrn Nawalny haben in großen russischen Städten zugenommen. Herr Putin hat Proteste in der Vergangenheit überstanden, vor allem im Jahr 2012, aber seine Popularität ist angesichts einer durch niedrigere Ölpreise und westliche Sanktionen geschwächten Wirtschaft abgesackt. (...) Außenminister Antony Blinken gab eine entschiedene Erklärung ab, in der er den Kreml aufforderte, Nawalny und andere, die während der jüngsten Proteste verhaftet wurden, “sofort und bedingungslos freizulassen„. Aber Putin wird sich nur beeindrucken lassen, wenn die Biden-Regierung eine geschlossene westliche Antwort zusammentrommeln kann, die härtere Sanktionen auch gegen Spießgesellen des Kreml beinhaltet. Die NATO sollte auch auf eine externe Provokation eingestellt sein, falls Putin die Aufmerksamkeit in Russland von seinen innenpolitischen Problemen ablenken will. Er hat das schon einmal getan, wie Präsident Biden sehr gut weiß. Zu jener Zeit war er noch Vizepräsident.“

"Not und Einfallslosigkeit der Moskauer Führung"

„Tages-Anzeiger“ (Zürich): „Zehn Jahre ist es her, dass Russland erstmals einen Aufstand erlebte, und schon damals war Alexej Nawalny der Protagonist eines längeren Machtkampfs. 'Partei der Gauner und Diebe', nannte er griffig die Regierungspartei, die gerade zur Profiteurin einer getricksten Parlamentswahl geworden war. Jetzt ist er selber der Anlass für eine Kaskade des Protests im ganzen Land. Die erneut peitschende Antwort darauf zeigt die Not und Einfallslosigkeit der Moskauer Führung. Wer Demonstranten pauschal 'Provokateure' und 'Rowdys' nennt, für den ist ein Dialog mit dem kritischen Teil des Volkes offenbar keine Option. Acht Monate vor der Parlamentswahl sieht der Kreml keinen Anlass, die Zügel zu lockern. Denn Freiheit und Freiraum für Nawalny und sein Team würden für den auf Kontrolle setzenden Kreml einen Wahlkampf bedeuten, der deutlich schwerer planbar wäre. Damit würde das Risiko erhöht, dass die unbeliebte Regierungspartei weiter an Ansehen verliert.“

„de Volkskrant“ (Amsterdam): „Russlands brutales Vorgehen gegen Proteste - zu Zeiten einer stagnierenden Wirtschaft - ähnelt zunehmend dem von Weißrussland. Der Kreml mit seinen gut bewaffneten Legionen nimmt das Risiko in Kauf, dass die Unruhen dadurch weiter angeheizt werden. Ebenso wie die Gefahr, dass Nawalny zum Märtyrer wird. Abgesehen von den bevorstehenden Dumawahlen lässt sich Putin von der Angst vor dem Volk und vor ausländischen Verschwörungen leiten. (...)
Die Härte des Vorgehens ist verhängnisvoll. Seit Monaten zieht vor den Augen Europas über dem Kontinent eine schwarze Wolke der Unterdrückung auf. Europäische Politiker zeigen sich besorgt, aber machtlos. Das ist für Putin und (den weißrussischen Präsidenten Alexander) Lukaschenko ein Freibrief. So wie sie sich hinter 'westlichen Verschwörungen' verstecken, verstecken sich europäische Politiker hinter ihrer eigenen Ohnmacht. Beides ist Fiktion. Wegschauen ist keine Strategie.“

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