Orbán sieht tiefe Gräben zu Deutschland: "Stehen nicht mehr Seite an Seite"

Orbán sieht tiefe Gräben zu Deutschland: "Stehen nicht mehr Seite an Seite"
Mit der Migrationskrise 2015 sei die Einigkeit mit den "disziplinierten Deutschen" zerbrochen.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sieht tiefe Gräben im Verhältnis zu Deutschland und auch zur neuen Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz (SPD). "Als ungarischer Ministerpräsident durfte ich 1998 für einige Monate gemeinsam mit Helmut Kohl das neue Europa gestalten; mit ihm, der stets der väterliche, verlässliche Freund und treue Patron der mitteleuropäischen Völker war", beginnt Orbáns Gastbeitrag für die Bild-Zeitung noch versöhnlich. 

Das erklärte Ziel der "disziplinierten Deutschen und der rebellischen, unangepassten Ungarn" sei ein Europa gewesen, in dem sich jede Nation zu Hause fühlen dürfe. Aber: "Mit der Migrationskrise 2015 zerbrach unsere Einigkeit." 

Damals waren Hunderttausende Migranten weitgehend unkontrolliert über die Balkan-Route nach Europa eingereist, vor allem nach Deutschland. Die damalige Krise habe tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft der Europäischen Union zutage gefördert, schreibt Orbán. "Für die Ungarn und andere Mitteleuropäer ist die Heimat immanent, die nationale und kulturelle Identität substanziell. Die Entwicklung zeigte, dass Angela Merkel eine andere Richtung einschlug, einen nachchristlichen und postnationalen Weg."

Orbán kritisiert "migrations- und genderfreundlichen" Kurs

Die Ungarn hätten verstanden, dass den Deutschen Migration nicht problematisch, sondern natürlich und wünschenswert erscheine. "Dieser Dissens schwächt den europäischen Zusammenhalt", so Orbán. "Über Migration, Gender, gemeinsame Verschuldung, die Verlagerung der Kompetenz nach Brüssel haben wir unterschiedliche Ansichten. Somit wird die Wiederbelebung der europäischen Zusammenarbeit massive Kraftanstrengungen erfordern."

Das dürfte auch mit Scholz schwierig werden, schlussfolgert der Ministerpräsident: "Die neue linksliberale Regierung strebt weg von Kohls Europa der Vaterländer hin zu einer migrations- und genderfreundlichen, deutsch geprägten, zentralistischen Politik aus Brüssel. Hier stehen wir nicht mehr Seite an Seite. Wie sich die Situation entwickelt, wird die Zeit zeigen."

Als Mitstreiter habe er während Merkels 16-jähriger Kanzlerschaft klare Antworten auf die Fragen unserer Zeit vermisst, schrieb Orbán . "Eines ist sicher: das Zeitalter der Zweideutigkeit, des unklaren Politikverständnisses und des Sich-treiben-Lassens ist jetzt zu Ende gegangen. Es kommen neue Zeiten, mit offenem Visier." Die Entwicklung unter Scholz werde zeigen, ob "unterschiedliche Ansichten tolerant und mit gegenseitigem Respekt in einem bunten Europa als Bereicherung empfunden werden oder als Belastung“.

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