Nobelpreisträgerin Matviichuk: "Russische Besatzung ist kein Frieden"

Oleksandra Matviichuk
Von Annika Meyborg
Für Oleksandra Matviichuk (41) sind Krieg und Frieden eine Frage von Recht und Gerechtigkeit. Im KURIER-Interview erzählt die Menschenrechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin von ihrer täglichen Arbeit mit (russischen) Kriegsverbrechen und Putins Plan für Europa.
Oleksandra Matviichuk ist eine führende Menschenrechtsanwältin und die Leiterin des „Center for Civil Liberties“, das sich für die Verteidigung von Freiheit und Menschenwürde in der Ukraine und der OSZE-Region einsetzt. Nach dem Beginn der russischen Invasion 2022 gründete sie zusammen mit anderen Partnern das „Tribunal for Putin“, um internationale Kriegsverbrechen zu dokumentieren und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Datenbank umfasst mittlerweile rund 88.000 Dokumente, in denen russische Kriegsverbrechen festgehalten sind.
Matviichuk hat zahlreiche Berichte für UN-Gremien und andere internationale Institutionen verfasst und ist eine prominente Verfechterin von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Für ihr Engagement erhielt sie 2022 den Friedensnobelpreis und wurde von der Financial Times für ihre Arbeit als eine der 25. einflussreichsten Frauen der Welt ausgezeichnet.

Oleksandra Matviichuk bei der Friedensnobelpreis-Zeremonie (2022, Norwegen)
KURIER: Sie dokumentieren seit Jahren Kriegsverbrechen. Von welchen Grausamkeiten berichten Ihnen die Menschen?
Oleksandra Matviichuk: Ich interviewte hunderte Menschen, die russische Gefangenschaft überlebten. Sie berichteten von Folter, Vergewaltigungen, Elektroschocks an den Genitalien. Manche verloren Finger, Andere ihr Augenlicht. Eine junge Frau berichtete, wie sie mit ihrem eigenen Blut schreiben musste. Und doch, egal wie schlimm die Geschichten sind – die Menschen erzählen sie, aus Hoffnung. Hoffnung darauf, dass es irgendwann Gerechtigkeit geben wird. Diese Hoffnung ist eine große Verantwortung. Deswegen stehe ich jeden Morgen auf und kämpfe weiter.
Ukrainische Frauen spielen eine zentrale Rolle im Widerstand. Wie erleben Sie das?
Die Dokumentation von Sexualverbrechen macht einen großen Teil meines Alltags aus. Russland agiert hier systematisch, will Gemeinschaften zerstören. Aber ukrainische Frauen sind Kämpferinnen, keine Opfer. Über 75.000 Frauen dienen in den ukrainischen Streitkräften. Sie kämpfen für die Zukunft ihrer Töchter; leiten Initiativen, dokumentieren Verbrechen und verteidigen unser Land.
Welche juristischen Wege sind realistisch, um russische Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen?
Es gibt derzeit kein internationales Gericht, das Putin und seine Kommandostruktur wegen des „Verbrechens der Aggression“ anklagen kann. Das öffnete einen Weg zur Hölle. Deshalb fordern wir seit 2022 ein Sondertribunal. Gerechtigkeit darf kein Privileg der Sieger sein, sondern gilt auch während eines Krieges.
Zudem müssen die 300 Milliarden Euro eingefrorener russischer Staatsgelder in G7-Staaten für den Wiederaufbau und für Entschädigungen genutzt werden. Das ist eine politische, keine juristische Frage. Der Westen steht vor einer klaren Entscheidung: Dieses Geld muss der Ukraine zugutekommen – oder es fließt zurück in Putins Kriegsmaschinerie. Es gibt keinen Mittelweg.
Das Verbrechen der Aggression bezeichnet in der Völkerrechtsordnung den Akt, bei dem ein Staat einen bewaffneten Angriff auf die Souveränität, territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines anderen Staates ohne rechtfertigenden Grund durchführt. Es ist eine der schwerwiegendsten Formen von Völkerrechtsverletzungen und umfasst zum Beispiel das unerlaubte Einmarschieren in ein fremdes Land oder die gewaltsame Eroberung von dessen Gebiet.
Das Verbrechen der Aggression ist seit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) 2002 im Römischen Statut verankert und kann vor diesem Gericht verfolgt werden, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Ziel der Strafverfolgung ist es, Frieden und Sicherheit zwischen Staaten zu schützen und Aggressionsakte zu verhindern.
Was erwarten Sie von europäischen Staaten und ihren Bürgern?
Zuerst möchte ich "Danke" sagen. Die Solidarität war und ist gewaltig. Aber es reicht nicht. Wir müssen mehr tun, nicht nur für ukrainische Menschen, sondern auch für unsere gemeinsame Sicherheit: Russland agiert imperial. Das heißt, es gibt keine Grenzen, aber ein klares Zentrum und eine unersättliche Gier nach mehr Gebieten.
Ukrainische Kriegsgefangene berichten von Sätzen wie: "Zuerst nehmen wir die Ukraine, dann gehen wir weiter." Millionen ukrainische Kinder in den besetzten Gebieten werden jetzt schon systematisch militarisiert; sie sind die nächste Generation von Putin-Soldaten. Europa darf das nicht zulassen. Und Europa sollte nicht vergessen, dass der einzige Grund, warum Europa sicher ist, darin liegt, dass Ukrainer noch immer kämpfen.
Die "Tribunal For Putin"-Initiative hat bereits zehntausende Verbrechen dokumentiert. Wie funktioniert das konkret?
Als der Angriffskrieg begann, schlossen wir uns mit weiteren Organisationen zusammen. Gemeinsam bauten wir ein landesweites Netzwerk von Dokumentarinnen auf, auch in den besetzten Gebieten. Wir sprechen mit Opfern und Zeugen vor Ort, sichern Beweise und werten offene Daten aus. Bis heute haben wir über 88.000 Verbrechen registriert – doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Russland nutzt Kriegsverbrechen als Mittel zur Kriegsführung. Schmerz wird instrumentalisiert, um Widerstand zu brechen. Das passiert in Syrien, Tschetschenien und jetzt in der Ukraine. Dieser Kreislauf aus Verbrechen und Straflosigkeit muss endlich durchbrochen werden.
Was hat Sie überhaupt dazu bewogen, sich für Menschenrechtsarbeit einzusetzen?
Als Schülerin kam ich in Kontakt mit der Geschichte sowjetischer Dissidenten, also sehr mutigen Menschen, die offen gegen das totalitäre System standen und dafür verfolgt, eingesperrt oder getötet wurden. Ich entschied mich damals, Jus zu studieren, um ihren Kampf für Freiheit und Menschenwürde weiterzuführen.
Was bedeutet für Sie ein gerechter Frieden?
Frieden ist nicht, wenn ein überfallendes Land aufhört, sich zu wehren. Das wäre Besatzung. Und russische Besatzung bedeutet Folter, Entführungen, Vergewaltigungen und Massengräber. Frieden ist das Ende von Gewalt und kann nur gerecht sein, wenn er auf Wahrheit, Verantwortung und Freiheit beruht. Für diesen Frieden brauchen wir ganz Europa. Alleine bin ich nur ein Tropfen, aber zusammen sind wir ein Ozean.
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