Überlebende des Hamas-Massakers: "Wir sind Netanjahu völlig egal"
Tamara Siman Tov steigt über ihren toten Partner Yonatan. Jetzt muss sie die Türe zum Schutzraum zuhalten. Die Hamas-Terroristen haben ihren Mann, den Vater ihrer drei Kinder, die hinter ihr im Schutzraum kauern, durch die Türe erschossen. Tamara hält den Versuchen der Terroristen, die Türe zum Schutzraum zu öffnen, stand. Also erschießen sie auch Tamara durch die Türe. „Dies ist mein letzter Atemzug“, schreibt sie in einer Nachricht an Freunde – und stirbt.
Die Terroristen zünden das Haus an. Die drei Kinder, die fünfjährigen Zwillingsschwestern Sharhar und Arbel und ihr zweijähriger Bruder Omer, sterben im Schutzraum an der Hitze und dem Rauchgas. Es sind die Morgenstunden des 7. Oktober 2023 im Kibbuz Nir Oz. Hinter den Feldern des Kibbuz sieht man die Trümmer von Gaza.
Vom Haus der Familie Siman Tov stehen nur noch die Außenwände und die Türe zum Schutzraum. An der rußbeschmutzten Hauswand steht ein Tischchen, ein Altar mit Kerzen, Fotos. Es gibt Schriftzüge und Schilder. Hier steht auf Hebräisch: Niemals vergessen, niemals vergeben. Und eine Botschaft an den israelischen Premierminister: „Benjamin Netanjahu, das Blut meiner Familie ist auf deinen Händen“
"Netanjahu, das Blut meiner Familie ist an deinen Händen" steht hier auf Schildern auf dem Haus der ermordeten Familie Siman Tov
Militär, Politik und Geheimdienst haben die Gefahr eines Überfalls im Süden unterschätzt. Der militärische Fokus lag im Norden Israels, an der libanesischen Grenze, nicht in Gaza. Unbemerkt konnten daher am 7. Oktober 2023 Hunderte Hamas-Terroristen in 22 Grenzorte in Israel eindringen und verübten das größte Massaker an jüdischem Leben seit dem 2. Weltkrieg. Sie töteten 1.200 Menschen, entführten 250 tote und lebende Geiseln. Bis heute hält die Hamas eine tote Geisel zurück.
Ein Drittel ermordet, entführt oder beides
Nir Oz war der am stärksten betroffene Kibbuz. Sie kamen um 06:30. Zu diesem Zeitpunkt waren 360 der 450 Bewohner im Kibbuz. Am Ende des Tages waren 117, also rund ein Drittel derjenigen, die an diesem Tag in Nir Oz waren, ermordet oder entführt, oder ermordet und entführt.
„Unsere Schutzräume hatten keine Schlösser“, erzählt Irit Lahav, einer der Überlebenden aus Nir Oz vor dem zerstörten Haus der Familie Siman Tov. Im Falle eines Raketenangriffs habe jeder in jedes Haus zum nächstgelegenen Schutzraum laufen können. „Wir sind Raketenalarme gewohnt. Niemand hat damit gerechnet, dass Menschen kommen“, sagt Irit Lahav.
Briefkästen im Kibbuz Nir Oz. Eine Überlebende markierte die Briefkästen der Bewohner mit Stickern, um zu kennzeichnen, wer befreit (blau), getötet (rot) oder entführt (schwarz) wurde.
Auch Irit Lahav und ihre damals 22-jährige Tochter Lotus verbarrikadierten die Türe ihres Schutzraumes mit Putzmaterialien. Die Terroristen kamen in ihr Haus, aber konnten die Schutzraum-Türe nicht öffnen. „Mein Dyson-Staubsauger hat uns wohl das Leben gerettet“, scherzt sie im Kibbuz. Acht Stunden harrten sie aus, bis das Militär sie endlich evakuierte. Von 06:30 bis 12:30 wüteten die Terroristen unbehelligt. Die israelischen Soldaten (IDF) kamen erst um 13:10 in Nir Oz an.
Rückkehr und Wiederaufbau
Die Überlebenden wurden zuerst in Hotels im Norden Israels gebracht. Nach einigen Monaten organisierte der Staat den Nir-Oz-Überlebenden Privatwohnungen in Kirjat Gat, eine Stunde von Nir Oz entfernt. Heute, zwei Jahre und zwei Monate nach dem Überfall, wird das Kibbuz wieder aufgebaut. Häuser werden renoviert. Manche Häuser aber, wie das Haus der Familie Siman Tov, sollen als Mahnmal des Überfalls in seiner Zerstörung unberührt bleiben. Mittlerweile sind 14 Häuser wieder bewohnt. Für viele Überlebende aber bleibt eine Rückkehr nach Nir Oz und Normalität im Kibbuz ausgeschlossen.
Irit Lahav selbst will nicht zurück - derzeit. „Ich habe es versucht. Im Mai bin ich in mein renoviertes Haus zurückgekommen, aber ich hatte jede Nacht solche Angst, ich konnte hier nicht bleiben. Es ist ein Prozess. Wer weiß, vielleicht will ich nächsten Monat dann doch zurückkommen“, sagt sie. Die meisten Überlebenden leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Depressionen und/ oder Panikattacken.
„Wir sind Netanjahu egal“
„Wir sind eine zutiefst traumatisierte Nation“, sagen Israelis dem KURIER im ganzen Land. Einige Menschen hier sprechen offen über Hass, Enttäuschung und Wut - aber nicht nur auf die Hamas. Viele Überlebende und Angehörige von Opfern fühlen sich von Premier Benjamin Netanjahu im Stich gelassen. Dazu zählt auch Gilad Karplus. Dem Massagetherapeuten wurde beim Überfall am 7. Oktober auf das Nova-Festival in den Kopf geschossen. „Die Regierung lässt uns hängen“, sagt Karplus zum KURIER. Direktbetroffene bekämen zwar psychologische Betreuung und auch der Wiederaufbau der Kibbuzim werde finanziert, aber das sei zu wenig. „Wir sind traumatisiert. Ich verarbeite den 7. Oktober immer noch jeden Tag und der Staat hilft mir nicht, wieder auf eigenen Beinen zu kommen“, sagt der selbstständige Gilad auf dem Gelände des Nova–Festivals zum KURIER.
„Netanjahu und die Regierung in Jerusalem ignorieren uns. Wir sind ihm völlig egal. Sie interessieren sich nur für ihre Parteipolitik“, sagt auch Irit Lahav. Das Militär habe sich bei den Bewohnern von Nir Oz entschuldigt, „Netanjahu aber hat sich nie bei uns entschuldigt“, sagt sie.
Waffenruhe als Nachteil für Netanjahu
Tatsächlich ist die Bevölkerung in Israel nicht nur traumatisiert, sondern auch tief gespalten. Seit der Waffenruhe hat sich die Lage für Netanjahu, der im kommenden Oktober eine Wahl bestreiten muss, verschlechtert. Vor der Knesset in Jerusalem campieren Demonstranten, die eine Untersuchungskommission des 7. Oktober und den Rücktritt Netanyahus fordern. Laut Erhebungen des israelischen Viterbi Center for Public Opinion and Policy Research aus dem September 2025, also kurz vor der Waffenruhe, forderten 45 Prozent der Israelis, dass Netanjahu seine Verantwortung für den 7. Oktober eingesteht und sofort zurücktritt, weitere 19 Prozent forderten, dass Netanjahu dies nach Ende des Krieges tut.
Außerdem verlagern sich seit der Waffenruhe und Rückkehr der meisten Geiseln die Sorgen der Bevölkerung wieder auf andere Themen: Enorm hohe Lebenshaltungskosten, Privilegien für Ultra-Orthodoxe - etwa, dass sie nicht in den Armeedienst müssen - und steigendes Misstrauen in die Rechtsstaatlichkeit spalten das Land. Erst am Donnerstag sind Haredi–Proteste extremistischer Ultra-Orthodoxer in Jerusalem eskaliert. Die samstäglichen Proteste zur Befreiung der Geiseln haben sich zu Anti-Regierungsprotesten gewandelt.
Die Regierung und Netanjahu haben den sogenannten Kriegs-Bonus verloren. Die traumatisierte Bevölkerung will Veränderung.
Die Reise nach Israel erfolgte auf Einladung von EIPA, der Europe Isreal Press Association, ein Großteil der Reise- und Hotelkosten wurden übernommen.
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