Die Erfahrung von Gian Marco ist dabei kein Einzelfall. Vergangenes Jahr haben Briten acht Millionen Mal etwas im Handel mitgehen lassen. So das Ergebnis der jährlichen Kriminalitätsstudie des Handelsverbands British Retail Consortium (BRC). Die knapp 22.000 Ladendiebstähle pro Tag ergaben einen Schaden von umgerechnet 1,1 Milliarden Euro. Kareene Luong wundert das nicht. Als Verkäuferin des Kosmetikladens „Reiwatakiya“, ebenfalls im Londoner Zentrum, ist sie von Diebstählen besonders betroffen: Kleine Parfumflaschen sind nicht nur schnell eingesteckt, sie sind auch oft teuer. Mitnehmen rentiert sich daher umso mehr.
Gelbe Sticker am Eingang
Seit Kurzem klebt an der Scheibe neben dem Eingang ein gelber Sticker: „Shoplifters risk a criminal record“ (dt. „Ladendiebe riskieren einen Strafeintrag“). Doch einen großen Nutzen erhofft sich Luong davon nicht. Die Überwachung fehle, die Polizei hätte Wichtigeres zu tun.
Ist das der Grund des Dilemmas, fragt Journalistin Shari Vahl vergangene Woche auf BBC4, dass Ladendiebstahl als „soft crime“ gesehen wird? Chris Brook-Carter, Chef der NGO „Retail Trust“ stimmt ihr zu: Bedrohung und Missbrauch seien Alltag geworden, das müsste sich ändern. „Körperlich oder verbal angegriffen zu werden, sollte für niemanden zum Job gehören“, sagt er. Laut Handelsverband BRC kam es aber im vergangenen Jahr im Schnitt zu 850 Vorfällen pro Tag. Das ist doppelt so viel wie vor Corona.
"Angeschrien, bespuckt, bedroht"
Zu Unrecht gelte Ladendiebstahl zudem als opferloses Verbrechen, sagt Brook-Carter. „Tausende Menschen berichten uns, dass sie bei der Arbeit angeschrien, bespuckt, bedroht und geschlagen werden. Sie sind extrem verängstigt, gezwungen, sich freizunehmen oder sogar zu kündigen.“
Mittlerweile seien Mitarbeiter zwar angehalten, Dieben nicht nachzustellen – zu groß sei die Gefahr, dabei verletzt zu werden. Als junge Angestellte sei Ex-Tesco-Filialleiterin Cheryl Wilson Dieben aber schon auch nachgestellt. Ein Dieb habe sie im Davonlaufen mit gestohlenen Ripperln attackiert. Er kam ohne Diebsgut davon. Während früher vor allem Fleisch und Alkohol gestohlen wurden, ergänzte Wilson gegenüber der BBC, sei es nun eigentlich alles: Elektrogeräte, Hygieneprodukte, der tägliche Einkauf. Ein Apotheker aus Birmingham erzählte wiederum, er sei um Tausende Pfund beraubt worden.
Im Kinderwagen verstaut
Kunden würden Medikamente mitunter ihren Kindern reichen und diese sie im Kinderwagen verstauen. Regelmäßig kündigt die Polizei härteres Vorgehen gegen Ladendiebstahl an. Erst vergangene Woche wurde in Bradford – die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in England und Wales – die Kampagne „ShopKind“ gestartet. Diese will Verkäuferinnen und Verkäufer als Schlüsselarbeitskräfte hervorwerben, die Höflichkeit verdient haben. Ob die Aktion Wirkung hat, wird sich zeigen. Denn bereits jetzt wird man in fast jedem Geschäft darauf aufmerksam gemacht, dass physische oder psychische Gewalt nicht toleriert wird.
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