"Wir sind das gewohnt"

Eine Gruppe von Menschen, darunter Frauen und Kinder, geht durch eine zerstörte Gegend.
KURIER-Lokalaugenschein im südlichen Israel, wo immer schon Hamas-Raketen einschlugen.

Wir fahren nur noch bis Ashkalon. Nach Sderot geht es weiter mit dem Bus", erklärt die nette Frau am Fahrkartenschalter. Auf dem Bahnsteig verkündet der Lautsprecher neben den üblichen Durchsagen auch die Vorschriften für Fahrgäste, sollte der Zug durch ein Gebiet fahren, in dem gerade die Alarmsirenen jaulen. Über Zuglautsprecher werden die Reisenden informiert. Und je näher der Süden rückt, desto häufiger – Alarm! "Während der Zug seine Fahrt verlangsamt, knien sich die Fahrgäste auf den Boden zwischen den Sitzen und verschränken die Arme über dem Kopf."

"Gewusst wie"

Ein junger Typ mit Rasta-Locken, Gitarre und Rucksack grinst: "Wie in Indien, da sind die Züge so voll, da fahren die Leute immer so." Joel heißt er, "wie Billy". Er studiert im Sapir-College neben Sderot Tontechnik. Trotz Semesterferien zieht es ihn in den Süden. "Mit Alarm kenn ich mich aus. In Panik gerate ich schon lang nicht mehr. Da hab ich mein Zimmer, und das Leben ist für jemanden wie mich preiswert. Nur eben gewusst wie."

"Billy" Joel klärt auf: Es gibt in diesen harten Zeiten viele Ermäßigungen für Südbewohner. Eine Karte für alle Filme im neuen CinePlexx. Es ist mit Betonwänden vor Raketen geschützter als die meisten Wohnhäuser. Und die Pizza! "Bis zu 20 Prozent weniger bei Vorlage eines Ausweises mit Süd-Adresse."

Die unerwartete Information ist noch unverdaut, da mischt sich eine junge Mutter ein. Mali war mit ihrem vierjährigen Sohn bei der Schwester in Holon neben Tel Aviv. Raketen-Urlaub. Auf Joels Preisliste reagiert sie sauer: "Der spart sich mit seinem Rasta-Look sogar das Kämmen, hat aber nicht die geringste Ahnung, was es heißt, mit Kindern ständig vom Alarm aufgeschreckt zu werden."

Malis kleiner Sohn Dudi wollte in Holon mit seiner Cousine nicht auf den Spielplatz. In Sderot stehen dort breite Beton-Rohre: Raketenschutz auf die Schnelle. Computerspiele auf dem Sofa zu Hause sind gewaltfreier als die Schaukeln in Sderot.

"Meinem Vater zerriss ein Splitter mit über 70 die linke Wade", so Mali, "auf dem Markt beim Einkauf. 2004 war das. Heute ist der Markt überdacht." Der Mitt-Dreißiger mit Aktenkoffer und iPad wirft ein: "Meine Nachbarin wurde keine 50. Der zerriss es die Schlagader." Am Bahnhof in Ashkalon steht sein Auto. Levi heißt er. Er fährt Mali, Dudi und mich nach Sderot. "In schlimmen Zeiten muss man zusammenhalten", sagt er, "sogar die Tel Aviver". Er arbeitet in der Hi-Tech-Branche. "Ich wohne trotzdem in Sderot." Da sei er geboren, er lasse sich nicht vertreiben. "Wenn keine Raketen mehr fallen, ziehe ich nach Tel Aviv." Etwas leiser dann: "Bei den Tel Aviverinnen macht mich das interessanter."

Alarm: "Rote Farbe" In Sderot wird der Alarm über Lautsprecher in den Straßen oder über Radio und TV ausgerufen: "Rote Farbe, rote Farbe", so der Alarmruf. Sirenen machen zu sehr Panik. Im Krisenraum "Chossen" (Durchhaltekraft) laufen die Fäden zusammen. Zivilschutz, Armee, Polizei, Stadtverwaltung, medizinische Einrichtungen – alle sind hier beteiligt. Eine Telefonnummer für jedes Problem. Auch Psychologen und Finanzamt.

Bürgermeister Allon Davidi sieht müde aus, winkt aber ab: "Wir sind das gewohnt, auch wenn es derzeit härter zugeht." Sein wichtigstes Problem liege beim Finanzamt, betont er: Dort werden Schadensersatzansprüche gestellt. Nach dem Einschlag einer Rakete gebe es keine Probleme. "Was aber mit dem indirekten Schaden? Dem Ausfall im Handel. Der frei genommene Tag, um die Kinder nicht allein zu lassen."

Israel hat am Donnerstag seine Militäroffensive gegen die Hamas im Gazastreifen vorangetrieben. Die Zahl der getöteten Palästinenser stieg auf mehr als 78. Die Hamas wiederum feuerte weitere Raketen auf israelische Städte.

Sie richteten allerdings dank des Raketenabwehrsystems "Iron Dome" (Eiserne Kuppel) kaum Schaden an. Es besteht aus sieben über das Land verteilten Abwehrbatterien und wird, weil sehr teuer, nur aktiviert, wenn bewohnte Gebiete bedroht sind. Das war bei 27 Prozent der 180 seit Montagnacht abgeschossenen Raketen der Fall, 90 Prozent wurden zerstört – auch die in Richtung Atomreaktor Dimona gefeuerten. Der Rest verfehlte sein Ziel.

Der bewaffnete Arm der Hamas nannte inzwischen fünf Bedingungen für eine Waffenruhe, darunter ein Ende der Blockade des Gazastreifens, Gefangenenfreilassungen und ein "Ende der israelischen Militäroperationen im Westjordanland, Ost-Jerusalem und im Gazastreifen". Israel fordert als Bedingung für ein Ende seiner Angriffe einen Stopp der Raketenangriffe der Palästinenser und die Wiederherstellung von Ruhe.

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