Nach US-Streit um Ukraine-Hilfe: "Im Westen hat man die Lage lange verkannt"

„Wir werden das durchsetzen, wir werden es bekommen“, sagte US-Präsident Joe Biden in der Nacht auf Mittwoch. „Es ist einfach völlig verrückt, die Ukraine nicht zu unterstützen“, fuhr er fort. Sollten die Hilfen wegfallen, gehe das gegen die Interessen der USA und der Welt. „Es ist einfach falsch.“
Zuvor war es im Senat zu einem hitzigen Streit zwischen Republikanern und Demokraten gekommen. Die Republikaner knüpfen ihre Zustimmung zu einem 110,5 Milliarden-Dollar-Paket für die Ukraine, Israel und Taiwan an schärfere Maßnahmen an der Grenze zu Mexiko: „Sie wollen Dutzende von Milliarden Dollar, um unseren Freunden und Verbündeten in Übersee zu helfen, aber sie sind nicht bereit, das Nötige zu tun, um eine potenzielle Krise an der Grenze zu verhindern“, sagte der republikanische Senator John Cornyn im Hinblick auf 270.000 Immigranten, die alleine im September an der Südgrenze aufgegriffen wurden.
Düstere Aussichten
Der Streit im Senat dürfte mit unverminderter Härte weitergehen. Hernach müsste das Paket – 61 Milliarden wären für die Ukraine eingeplant – noch das Repräsentantenhaus passieren, in dem die Republikaner die Mehrheit haben.
Sinkt die Unterstützung durch die USA, beziehungsweise hält die Blockade länger an, blieben noch europäische Staaten als potenzielle Waffenlieferanten – doch deren Arsenale sind weitgehend leer, die Produktion weiterer Munition läuft nur langsam an. „Es geht nicht nur um Waffen, sondern auch um die finanziellen Mittel, die Kiew braucht, um den Staat am Laufen zu halten“, sagt Militäranalyst Oberst Markus Reisner zum KURIER. Die Intensität des Streits in den USA überrascht auch ihn: „Ich hätte nicht erwartet, dass sich das jetzt schon so lange vor dem Wahlkampf so zuspitzt. Zur Gänze werden sich die USA nicht abwenden. Aber dennoch ist diese Situation ein düsteres Szenario für Kiew. Ich bin mir nicht sicher, ob wir in Europa verstanden haben, was auf uns zukommt.“ Gleichzeitig sind die russischen Streitkräfte im Begriff, den Druck auf viele Frontbereiche zu erhöhen.

Für die ukrainischen Streitkräfte bedeutet das Ausbleiben weiterer größerer Hilfen, die eigenen Stellungen an der 1.200-Kilometer-Front so gut wie möglich zu halten – und das im Abnützungskrieg, der seit Frühjahr 2022 tobt. Eine fatale Situation.
➤ Keine Zeit zu reagieren: Wie die Drohnen den Krieg verändern
„Der Westen hat die Lage lange verkannt. Man hat sich nie darauf eingestellt, dass ein Abnützungskrieg mit Ressourcen geführt wird“, sagt der Gardekommandant des Österreichischen Bundesheeres. Man habe es erstens verschlafen, die Munitionsproduktion rechtzeitig zu steigern. Zweitens habe man die Anpassungsfähigkeit der Russen unterschätzt: „Sie haben es immer geschafft, Waffensystemen der Ukraine etwas entgegenzusetzen – etwa im Bereich der HIMARS.“
Stimmung hat sich gedreht
Als dritten Punkt macht Reisner die gescheiterte Gegenoffensive der Ukrainer fest: „Sie haben bis jetzt nicht die geeigneten Waffen erhalten, etwa im Bereich der Luftwaffe. Und nach dem Scheitern der ersten Phase hat sich die russische Stimmung gedreht. Die eigenen hohen Verluste werden übertüncht vom militärischen Erfolg.“ Der vierte Punkt ist aus Reisners Sicht die Produktionskapazität Russlands: „Sie können Marschflugkörper mittlerweile in höherer Zahl produzieren als vor dem Krieg, haben die Drohnenproduktion industriell angekurbelt.“
Und im Gegenzug zur Ukraine verfügt Russland über einen stabilen Artilleriegranatennachschub. Etwa zwei Millionen Stück dürfte Russland pro Jahr produzieren können. Dazu kommt die Lieferung von einer Million Artilleriegranaten aus Nordkorea. Dieselbe Zahl kündigte die EU im Frühling binnen eines Jahres für die Ukraine an – und wird dieses Ziel nicht erreichen.
Mit dem Iran hat Russland einen weiteren Waffenlieferanten, dazu kommen florierende Einnahmen aus Energiegeschäften mit Indien und China. „Ich nenne sie die unsichtbaren Unterstützer, ohne die Russland nicht im Stande wäre, diesen Krieg zu führen“, sagt Reisner. So könne Russland Engpässe ausgleichen. „Wir haben damit in diesem Winter einen Punkt, an dem sich entscheiden dürfte, wie dieser Krieg ausgeht. Das sollte eigentlich immer vermieden werden – aber das ist jetzt die Realität.“
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