Selenskij spricht von "historischem Tag" + Auch Staudamm-Stadt wird geräumt
Tag 262 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Nach dem Truppenrückzug vom rechten Ufer des Flusses Dnipro in der südukrainischen Region Cherson haben die russischen Besatzer nun auch eine Evakuierung der Staudamm-Stadt Nowa Kachowka auf der linken Flussseite angekündigt. Die Verwaltung von Kachowka ziehe sich mit den Bürgern der Stadt an einen sicheren Ort zurück, teilte Besatzungschef Pawel Filiptschuk nach Angaben der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass am Samstag in einer Rede an die Bevölkerung mit.
Filiptschuk rief die Menschen in einer festgelegten Zone von 15 Kilometern auf, ihre Wohnungen zu verlassen. Befürchtet wird, dass der Staudamm durch Beschuss zerstört und das Gebiet überflutet werden könnte. Russen und Ukrainer werfen sich seit Wochen gegenseitig vor, eine solche Provokation zu planen. Die ukrainischen Streitkräfte hätten die Verwaltung von Kachowka als Ziel "Nummer eins für einen Terroranschlag" in der Region ausgemacht, behauptete Filiptschuk. Die Ukraine weist Sabotageabsichten zurück.
Das Leben der Menschen sei durch Kampfhandlungen in Gefahr, sagte Filiptschuk. Die Menschen sollten in die südrussische Region Krasnodar gebracht und dort versorgt werden. Filiptschuk versprach den Flüchtenden eine warme Unterkunft, regelmäßige Mahlzeiten und 100.000 Rubel (1.611,60 Euro) Hilfe. Die Ukraine wirft den Besatzern vor, die Menschen zu verschleppen.
Weitere Befreiung angekündigt
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij kündigte unterdessen die Befreiung weiterer von Russland besetzter Gebiete an. "Wir vergessen niemanden, wir werden niemanden zurücklassen", sagte Selenskyj am Samstagabend in seiner täglichen Videoansprache. Auch auf der bereits 2014 von Moskau annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim werde irgendwann wieder die ukrainische Flagge wehen, versprach der Staatschef.
Angesichts des Rückzugs russischer Truppen aus Cherson hat Selenskij von einem "historischen Tag" gesprochen. "Wir erobern Cherson zurück", sagte er in seiner täglichen Videobotschaft via Telegram am Freitag. Zuvor hatte er geschrieben, die Stadt gehöre wieder "unserem Volk". Die USA sprachen von einem "außergewöhnlichen Sieg". Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba betonte am Samstag, der Krieg gehe weiter.
Die ukrainische Armee befinde sich am Stadtrand, erklärte Selenskij auf Telegram. "Aber Spezialeinheiten sind bereits in der Stadt", fügte er hinzu. Ihre erste Aufgabe werde es sein, die zahlreichen Minen unschädlich zu machen, die von der russischen Armee hinterlassen worden seien.
Der ukrainische Präsident lobte den Mut der Einwohnerinnen und Einwohner Chersons, die seit Mitte März unter russischer Besatzung waren. "Sie haben die Ukraine nie aufgegeben", sagte Selenskij. Ein von Selenskij geteiltes Video sollte ukrainische Soldaten zeigen, die nach eigenen Angaben von einer Menge bejubelt wurden.
Klitschko: "Cherson ist die Ukraine"
"Cherson ist die Ukraine", erklärte auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in einem Onlinedienst. In sozialen Medien wurden auch Bilder von Menschen in Cherson veröffentlicht, die ukrainische Flaggen schwenkten.
Der ukrainische Außenminister Kuleba nannte den russischen Rückzug einen "weiteren wichtigen Sieg" für die Ukraine. Am Samstag betonte er jedoch: "Wir gewinnen Schlachten auf dem Boden. Aber der Krieg geht weiter."
Die USA sprachen am Samstag nach dem Rückzug der russischen Truppen von einem "außergewöhnlichen Sieg" für die Ukraine. "Es sieht so aus, als hätten die Ukrainer gerade einen außergewöhnlichen Sieg errungen, bei dem die einzige Regionalhauptstadt, die Russland in diesem Krieg erobert hat, nun wieder unter ukrainischer Flagge steht", sagte der Nationale Sicherheitsberater, Jake Sullivan.
Er sagte, der russische Rückzug habe "umfassendere strategische Auswirkungen". Dazu gehöre, dass sich die längerfristige Bedrohung anderer südukrainischer Städte wie Odessa durch Russland verringere. Dieser große Moment sei der "unglaublichen Hartnäckigkeit und dem Geschick der Ukrainer zu verdanken". Er verwies auch auf die Unterstützung der USA und anderer Staaten.
Russen räumen Cherson
Neun Monate nach Beginn des Krieges hatte die russische Armee am Freitagmorgen die strategisch wichtige Stadt Cherson geräumt. Um 05.00 Uhr (04.00 Uhr MEZ) sei "der Transfer russischer Soldaten ans linke Ufer des Flusses Dnipro (Dnepr) beendet" gewesen, erklärte das russische Verteidigungsministerium in Onlinediensten.
Demnach wurde "kein einziges Teil militärischer Ausrüstung und Waffen" auf der anderen Flussseite zurückgelassen. Die russische Armee gab an, mehr als 30.000 Soldaten aus dem Norden der Region Cherson zurückgezogen zu haben.
Angesichts der Fortschritte der ukrainischen Gegenoffensive hatte die russische Armee am Mittwoch ihren Rückzug aus dem Norden der Region Cherson und deren gleichnamiger Hauptstadt angeordnet. Die Stadt war das erste größere urbane Zentrum, das die russischen Streitkräfte seit Beginn des von Moskau "militärische Spezial-Operation" genannten Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar einnehmen konnten. Es war zugleich die einzige russisch kontrollierte Regionalhauptstadt in der Ukraine.
Für Moskau ist die Region strategisch von großer Bedeutung, um die Offensive in Richtung Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortsetzen zu können. Darüber hinaus beherbergt Cherson den Kachowka-Staudamm, der die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt.
"Subjekt der Russischen Föderation"
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte Ende September die Annexion von Cherson und drei weiteren ukrainischen Regionen verkündet. Am Freitag erklärte der Kreml, Cherson bleibe trotz des Truppenabzugs Teil des russischen Staatsgebiets. Die Region sei "Subjekt der Russischen Föderation", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow unter Verwendung der russischen Bezeichnung für Verwaltungseinheiten.
Die Region Cherson ist seit Wochen Ziel der ukrainischen Gegenoffensive. Dem russischen Rückzug waren Gebietsgewinne der ukrainischen Streitkräfte in der Region vorausgegangen.
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