Russen nähern sich Kiew, Tote bei Angriff auf TV-Turm
Tag Sechs des russischen Angriffs auf die Ukraine: Die massiven Angriffe gegen die beiden größten ukrainischen Städte Charkiw und Kiew gehen weiter. In Charkiw wurden nach Angaben des Bürgermeisters Umspannwerke gesprengt. Auch seien die oberen Stockwerke zweier Hochhäuser zerstört worden.
Am Nachmittag wurde nach ukrainischen Angaben durch einen russischen Angriff der Fernsehturm von Kiew getroffen. Die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen sei dadurch "für eine gewisse Zeit" unterbrochen, teilte das ukrainische Innenministerium mit. Die Struktur des im Zentrum von Kiew stehenden Fernsehturms sei aber intakt geblieben. Fünf Menschen sollen beim Angriff getötet worden sein.
Über dem Stadtviertel sei Rauch aufgestiegen und Ausrüstung für den Fernsehturm sei beschädigt worden, teilte das Ministerium weiter mit. In der Millionenstadt wurde am Nachmittag erneut Luftalarm ausgelöst.
Bürgermeister Vitali Klitschko bezeichnete die Lage als "bedrohlich". "Der Feind will das Herz unseres Landes erobern. Aber wir werden kämpfen und Kiew nicht aufgeben", schrieb er im Nachrichtenkanal Telegram. Er warnte zugleich vor Panik und Falschinformationen.
Die Truppenbewegungen auf Kiew gingen unterdessen weiter, im Nordwesten der Stadt stand ein über 60 Kilometer langer russischer Militärkonvoi.
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Das ukrainische Militär hat außerdem nach Darstellung Russlands keinen direkten Zugang mehr zum Asowschen Meer. Dies teilte das Verteidigungsministerium in Moskau laut Nachrichtenagentur Tass am Dienstag mit. Damit hätte Russland eine Landverbindung zwischen seinem Kernland und der 2014 von der Ukraine annektierten Halbinsel Krim geschaffen. Aus der Hafenstadt Mariupol an der Küste im Osten war zuvor heftiger Beschuss gemeldet worden.
Probleme bei der Strom- und Wasserversorgung
Charkiws Bürgermeister Ihor Terechow berichtete infolge der Sprengungen von Problemen bei der Strom- und Wasserversorgung der Stadt. Zuvor hatte er von 87 beschädigten Wohngebäuden, neun Toten und 37 Verletzten gesprochen. "Der heutige Tag hat gezeigt, dass das nicht einfach Krieg ist. Das ist die Ermordung von uns, dem ukrainischen Volk", sagte er in einer Videobotschaft. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Vorgänge in Charkiw als Kriegsverbrechen. "Es wird definitiv ein Tribunal für dieses Verbrechen geben. Ein internationales. Das ist ein Verstoß gegen alle Konventionen", sagte er in einer Videobotschaft.
KURIER Reporter Armin Arbeiter meldet sich aus Charkiw
Wohnhäuser in Kiew zerstört
In der Region Kiew wurden am Montagabend ein Wohnheim und zwei fünfstöckige Wohnhäuser zerstört, berichteten die Behörden. Die Gebäude befanden sich in den Städten Wasylkiw, Bila Zerkwa im Südwesten Kiews sowie in der Siedlung Kalyniwka in Nordwesten der Stadt. Angaben über mögliche Opfer wurden von den Behörden nicht gemacht.
Der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell hat den russischen Angriff auf das Zentrum der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw scharf verurteilt. "Die russischen Bombenangriffe auf zivile Einrichtungen in Charkiw verstoßen gegen Kriegsrecht", schrieb Borrell am Dienstag auf Twitter. Die EU stehe "in diesen dramatischen Momenten an der Seite der Ukraine".
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat unterdessen eine Rede vor dem EU-Parlament gehalten - selbstverständlich war er nur per Video zugeschalten. Anbei die Rede im Videoformat:
Die Rede des ukrainischen Präsidenten im EU-Parlament
Russischer Militärkonvoi vor Stadt wächst an
Der US-Sender CNN berichtete am Montagabend (Ortszeit) unter Berufung auf Militärexperten, dass der Sturm auf die Hauptstadt unmittelbar bevorstehen könnte. Allerdings könnte die Armee auch versuchen, einen Belagerungsring um die Stadt zu bilden. Für Besorgnis sorgten auch Erkenntnisse des auf die Analyse von Satellitenbildern spezialisierten US-Unternehmens Maxar, wonach der russische Armeekonvoi im Nordwesten der Stadt mit 40 Meilen (64 Kilometer) mehr als doppelt so lang sein soll wie bisher angenommen.
Der frühere US-Geheimdienstkoordinator James Clapper äußerte die Erwartung, dass die russische Armee insbesondere den Artilleriebeschuss intensivieren werde. "Es wird brutal und hässlich werden", sagte er am Montagabend (Ortszeit) dem US-Sender CNN. Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Kira Rudik sagte, man stelle sich auf eine Belagerung ein. Wichtig sei, die Zufahrtsstraßen nach Kiew offen zu halten, betonte sie.
Klitschko: Standhalten, "so lange wir am Leben sind"
Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko sagte auf die Frage, wie lange die Stadt dem russischen Druck standhalten könne: "So lange wir am Leben sind." Es gebe nämlich eine unglaubliche Einigkeit in der Bevölkerung, die "nicht zurück in die Sowjetunion" wolle. "Wir sehen unsere Zukunft als modernes europäisches Land. Das ist unser Ziel", betonte er.
Bei russischen Luftangriffen am Montag wurden fünf Kampfflugzeuge und ein Hubschrauber abgeschossen, berichtete die Ukrainska Pravda am Dienstag unter Berufung auf das Verteidigungsministerium. Die Abschüsse auf die Kampfflugzeuge seien während der Luftangriffe auf Wassylkiw und Browary im Kiewer Umland erfolgt, hieß es. Auch ein Marschflugkörper und ein Hubschrauber seien in der Nähe von Kiew abgeschossen worden. Ukrainische Kampfflieger hätten Panzer und Truppen bei Kiew und Schytomyr bombardiert, Bombenabwürfe gab es auch im nördlichen Tschernihiw und in der Nähe der russisch kontrollierten Stadt Berdjansk im Süden.
Russische Truppen in Cherson eingedrungen
Russische Truppen drangen am Dienstagvormittag vom Westen in die südukrainische Regionalhauptstadt Cherson ein und ließen bis zum Nachmittag auch im Osten der Stadt Spuren der Zerstörung. "Die Lage ist sehr angespannt. Wir sitzen in Schutzräumen und sollen nicht rausgehen", sagte der APA ein Bewohner der Stadt, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht mehr genannt werden kann. Das Internet funktionierte am späten Nachmittag noch vor Ort.
Er kenne die Pläne der russischen Truppen nicht, sie hätten womöglich schon früher einmarschieren können, zumal in Cherson keine größeren ukrainischen Truppenteile vorhanden seien. "Vielleicht fürchten sie Kämpfe im urbanen Raum und Cherson liegt für sie auch etwas abseits", sagte er in einem Telefonat. Die zentrale Marschrichtung sei in Richtung Westen in die Hafenstadt und Industriestadt Mykolajiw. Nach der Zerstörung der Autobahn vor einigen Tagen sei gestern eine Wagenkolonne aus zehn Mannschaftstransportern, vier Panzern und einigen Lastwägen an Cherson vorbei auf einer Landstraße in diese Richtung gefahren.
Über die Stärke der ukrainischen Territorialverteidigung in der Stadt wollte der Gesprächspartner der APA keine Angaben machen. Im Internet veröffentlichte Videos aus dem Westen und Osten der Stadt legten aber nahe, dass es zu Kampfhandlungen gekommen war. Am frühen Nachmittag brannte zudem eines der wichtigsten Shoppingzentren in der Stadt.
Die 300.000 Einwohnerstadt und Regionalhauptstadt der gleichnamigen Oblast liegt unweit der Dnjepr-Mündung, von der 2014 russisch annektierten Halbinsel Krim kommt man über Cherson und Mykolajiw in die Schwarzmeermetropole Odessa, die ein weiteres Ziel der russischen Militäroperation darstellen dürfte.
Truppen aus Belarus?
Weißrussische Truppen sind offenbar in die ukrainische Region Tschernihiw, nordöstlich von Kiew, eingedrungen. Das schreibt zumindest der offizielle Twitter-Account des ukrainischen Parlaments. Solche Meldungen unabhängig zu überprüfen, ist aktuell schwieriger denn je. Sobald mehr bekannt ist, werden wir mehr dazu veröffentlichen.
Schon gestern gab es neue Berichte, wonach die russischen Aggressoren Unterstützung von der belarussischen Armee bekommen könnten. Das ukrainische Militär berichtete am Montag, dass belarussische Truppen in Richtung Ukraine unterwegs sind. "Einige Einheiten der kampfbereitesten Formationen der belarussischen Streitkräfte haben begonnen, sich zur Staatsgrenze der Ukraine in Richtung Wolhynien zu bewegen", schrieb der ukrainische Generalstab am Montag auf Facebook. Diese Informationen ließen sich nicht unabhängig prüfen. Wolhynien ist eine Region im Nordwesten der Ukraine.
Bereits in der Nacht auf Montag hatte es Spekulationen gegeben, dass Belarus sich in Kürze offiziell mit Soldaten in den Krieg Russlands gegen die Ukraine einschalten könnte. Dabei hatte der belarussische Präsident Lukaschenko nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj noch am Sonntag versichert, nicht in den Krieg eingreifen zu wollen.
Russland verlegt Ost-Truppen näher an Europa
Russland verlegt einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax zufolge Truppen aus dem äußeren Osten Russlands näher an Europa heran. Die militärischen Einheiten würden Übungen in der Provinz Astrachan im Südwesten an der Grenze des asiatischen und des europäischen Teils des Landes abhalten, zitiert die Agentur das zuständige Militärkommando am Dienstag. Die Truppen würden vor allem die Verlegung von militärischen Einheiten über große Entfernungen üben.
Im aktuellen Angriffskrieg setzt der Kreml auch zu einem großen Teil Truppen ein, die für Übungen verlegt worden waren. Im Vorfeld der Aggression gegen das Nachbarland hatte die russische Armee zehntausende Soldaten rund um die Ukraine stationiert, unter anderem auch auf der annektierten Halbinsel Krim sowie in dem westlichen Vasallenstaat Belarus. Während des Ukraine-Feldzugs gefangen genommene Soldaten gaben an, dass sie von ihren Kommandanten über den Einsatzort und -zweck im Unklaren gelassen wurden.
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