Bürgermeister in der Ostukraine: "Alle müssen fliehen"

Bürgermeister in der Ostukraine: "Alle müssen fliehen"
Die strategisch wichtige Stadt Slowjansk steht im Zentrum russischer Angriffe. Auch die letzten Einwohner sollen gehen

Tag 152 im russischen Belagerungskrieg gegen die Ukraine:

Nur ein Fünftel der einst 100.000 Einwohner von Slowjansk in der Ostukraine ist noch in der Stadt. Gas und Wasser sind längst ausgefallen. Jetzt fordert der Bürgermeister auch die letzten Bewohner der fast völlig zerstörten Stadt zur Flucht auf. Im nächsten Winter drohe ohnehin der totale Ausfall der Wärme- und Wasserversorgung. „Sie werden Ihre Wohnung heizen können, wenn es denn Strom gibt, doch die Kanalisation wird einfrieren“, sagte der 49-jährige Wadym Ljach in der Nacht zum Montag.  Ljach rechnet mit dem Versuch der Eroberung der Stadt durch die russischen Truppen. „Vorbote wird starker Artilleriebeschuss sein. Dementsprechend wird die Zahl der Opfer in dieser Zeit steigen“, betonte er.
Einheiten der russischen Armee haben sich unterstützt von den Hilfstruppen der Donezker Separatisten den Stadtgrenzen bis auf etwa zehn Kilometer genähert. Die Ukraine hofft allerdings, den zur Festung ausgebauten Ballungsraum Slowjansk - Kramatorsk halten zu können.

Abnützungskrieg

Der Ukraine-Krieg der Russen entwickelt sich aktuell immer mehr zum Abnützungskrieg. Zwar werden intensiv Kämpfe an den Fronten im Süden und Osten des Landes geführt, laut britischem Geheimdienstes kann sich aber keine Seite wirklich durchsetzen bzw. entscheidende Gebietsgewinne erzielen.

Das britische Verteidigungsministerium twittert, die russischen Kommandeure steckten in dem Dilemma zu entscheiden, ob sie die Offensiv-Kräfte im Osten oder die Abwehr der ukrainischen Offensive im Süden stärken sollten.

Defekte Fahrzeuge bremsen Russland

Auch werde Russland nach Einschätzung britischer Geheimdienste durch die notwendige Reparatur einer großen Zahl beschädigter Kampffahrzeuge ausgebremst.

Neben den bereits bekannten personellen Engpässen stelle es Moskau auch vor Herausforderungen, Tausende Kampffahrzeuge, die im Krieg in der Ukraine beschädigt worden seien, zu reparieren und instand zu halten.

Am 18. Juli hätten Geheimdienste eine russische Reparaturwerkstatt rund zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt entdeckt, in der mindestens 300 beschädigte Fahrzeuge gestanden hätten - darunter Panzer, andere bewaffnete Fahrzeuge und Lastwagen für die Versorgung.

Schwerer Artilleriebeschuss

Die russischen Truppen haben nach Angaben aus Kiew in der Nacht weitere Sturmversuche östlich und südöstlich des Ballungsraums Slowjansk - Kramatorsk im Gebiet Donezk im Osten der Ukraine unternommen. „Der Gegner führt einen Angriff unweit von Spirne, die Kampfhandlungen halten an“, teilte der ukrainische Generalstab am Montag in seinem Lagebericht mit. Gekämpft werde ebenso um Vororte des Verkehrsknotenpunkts Bachmut.

In den meisten Fällen seien die Angriffe abgewehrt und die russischen Truppen zurückgeschlagen worden, teilte der Generalstab mit. 

Zum Kampfgeschehen im Süden des Landes, im Gebiet Cherson, beschränkte sich der Generalstab auf die Meldung schwerer Artilleriegefechte und russischer Luftangriffe. Derweil teilte das Kommando „Süd“ der ukrainischen Streitkräfte mit, bei eigenen Angriffen zwei Munitionsdepots und eine Kommandostelle der russischen Truppen vernichtet zu haben. Auch für diese Angaben gibt es keine unabhängige Bestätigung. Die Ukraine hatte wiederholt eine Offensive zur Rückeroberung der Südukraine angekündigt.

Russland will eigenes Tribunal für Kriegsverbrechen

Russland will mehr als 200 Ukrainer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einem noch zu schaffenden internationalen Tribunal verurteilen. Da die Vereinten Nationen vom Westen dominiert würden, solle so ein Tribunal stattdessen unter der Führung einer Partnerorganisation Russlands stehen, sagte der Chef des russischen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin. Seinen Angaben nach haben unter anderem Bolivien, der Iran und Syrien Interesse an einer Beteiligung bekundet. Der Internationale Strafgerichtshof hat Anfang des Monats Ermittlungen zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine aufgenommen. Es geht vor allem um die mutmaßlichen Massaker an Zivilisten in Burtscha, einem Vorort von Kiew.

Zum Tode verurteilt

Für internationales Aufsehen hatten kürzlich die zwei Todesurteile gesorgt, die über zwei britische Kämpfer verhängt worden waren. Die zwei Milizionäre waren von Einheiten der pro-russischen Separatistengebiete im Osten des Landes gefangen genommen worden. Vor einem Gericht in Donezk wurden sie dann zum Tode verurteilt. Ihr Schicksal ist vorerst unbekannt.

Gegenoffensive der Ukrainer

Die Ukraine hat erste Erfolge bei der geplanten Rückeroberung der von Russland besetzten Region Cherson verkündet. "Wir können sagen, dass ein Wendepunkt auf dem Schlachtfeld erreicht wurde", sagte Serhij Chlan von der Kiew-treuen Militärverwaltung Chersons am Sonntag in einem Fernsehinterview.

"Wir sehen, dass unsere Streitkräfte offen vorrücken. Die ukrainischen Truppen würden von der Defensive in die Gegenoffensive wechseln.

Chlan sagte, dass Cherson "definitiv bis September befreit" sein werde. Demnach bereiten die Ukrainer eine Bodenoffensive vor. Die ukrainische Armee hat, unterstützt von Artillerielieferungen aus dem Westen, in den vergangenen Wochen Boden in der südukrainischen Region gutgemacht.

Russische Truppen hatten die Hauptstadt Chersons gleichen Namens am 3. März erobert. Die Region ist wichtig für die Landwirtschaft der Ukraine und liegt nahe der Krim-Halbinsel, die Russland 2014 annektiert hatte.

Russland strebt Regimewechsel an

Russlands Außenminister Sergej Lawrow bestätigte unterdessen Moskaus Pläne für einen Regimewechsel in der Ukraine. "Wir helfen dem ukrainischen Volk auf jeden Fall, sich von dem absolut volks- und geschichtsfeindlichen Regime zu befreien", sagte Lawrow am Sonntag in Kairo. Das russische und ukrainische Volk würden künftig zusammenleben.

Die russische Führung hat in den vergangenen Tagen öffentlich ihre Position im Ukraine-Krieg verschärft. So drohte Lawrow am Mittwoch mit der Besetzung weiterer Gebiete auch außerhalb des Donbass. Angesichts der westlichen Waffenlieferungen und deren höherer Reichweite sei es nötig, die Kiewer Truppen weiter abzudrängen von den Gebieten Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine, die Moskau als unabhängig anerkannt hat.

Mit seiner Ankündigung, die politische Führung in Kiew auswechseln zu wollen, widerspricht Lawrow auch eigenen Aussagen vom April. "Wir haben nicht vor, das Regime in der Ukraine zu wechseln", erklärte der russische Chefdiplomat damals in einem Interview mit dem Fernsehsender India Today. Es sei Aufgabe der Ukrainer zu entscheiden, unter welcher Führung sie leben wollten, versicherte Lawrow damals.

Selenskij: Angriff auf Ukraine zeugt von Unkenntnis der Geschichte

Die Bewahrung der nationalen Einheit ist nach Ansicht von Präsident Wolodymyr Selenskij wichtigste Aufgabe der Ukrainer, um den Krieg zu gewinnen und Mitglied der EU zu werden. "Jetzt die Einheit zu bewahren, gemeinsam für den Sieg zu arbeiten, ist die wichtigste nationale Aufgabe, die wir zusammen bewältigen müssen", sagte Selenskij am Sonntag in seiner täglichen Videoansprache. Wenn die Ukrainer dies schafften, werde ihnen gelingen, was Generationen vorher misslungen sei.

Die Unabhängigkeit von Russland zu wahren, sich zu einem der modernsten Staaten der Welt zu wandeln und gleichzeitig den eigenen Weg Richtung Europa zu gehen, der nach Angaben Selenskyjs mit einer Vollmitgliedschaft in der EU enden wird. Selenskijs Ansprache war in gewisser Hinsicht eine Antwort auf die Ankündigung des russischen Außenministers Sergej Lawrow, die "volks- und geschichtsfeindliche Führung" in Kiew stürzen zu wollen.

"Nur diejenigen, die die wahre Geschichte nicht kennen und ihre Bedeutung nicht spüren, konnten sich entscheiden, uns anzugreifen", erwiderte Selenskij darauf nun. Jahrhunderte seien die Ukrainer unterdrückt worden und sie würden ihre Unabhängigkeit niemals aufgeben, versicherte der ukrainische Präsident.

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