Gegner der umstrittenen Justizreform legen Israel erneut lahm
Rechtsextremisten in der Regierung drohen mit dem Aushebeln der unabhängigen Justiz
18.07.23, 19:38
aus Tel Aviv Norbert Jessen
Noch ein Tag des Widerstands in Israel. Zigtausende Gegner der von der Regierung geplanten Justizreform blockieren Straßen, Kreuzungen, öffentliche Gebäude. Von Autobahnkreuzungen, Bahnhöfen und Flughäfen bis hin zu religiösen Gerichten. Ein Vorgeschmack auf das Chaos, das die Gegner der Reform nach Einführung der Reformen erwarten.
Sie sprechen nicht von Reform, sondern Justizputsch. Vom Ende eines liberalen und säkularen Israels, wie die Welt es kennt. Eine von Staatspräsident Isaac Herzog einberufene Dialogrunde konnte in den letzten Monaten keinen Kompromiss erreichen. Weshalb die Regierung jetzt ihre Reformen mit aller Macht und ohne Änderungen durchs Parlament peitschen will – und die Opposition immer stärker auf Widerstand setzt: Blockaden, Streiks und nicht nur zivile Verweigerung: Gerade Elite-Soldaten kündigen an, ihren Reservedienst einzuschränken.
Sprach Premier Benjamin Netanjahu letzte Woche noch von Änderungen und Anpassungen, lässt er jetzt seinen Reformvollstreckern im Parlament freie Bahn. Bis nächste Woche wollen sie die vorliegenden 27.676 Einwände der Opposition gegen die Reformanträge abgeschmettert haben. Bis Montag nächste Woche soll dann das Gesetz zur Abschaffung der "richterlichen Verhältnismäßigkeitsabwägung" verabschiedet sein. Mit ihm kann dann kein Richter mehr willkürliche Entscheidungen von Ministern oder höheren Verwaltungsbeamten stoppen. Tür auf für Korruption, Intransparenz, Rassismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit.
Für die Machthabenden wären Gesetze nur noch Empfehlungen. Dann könnte auch der wegen Korruption angeklagte Premier Netanjahu auf eine Einstellung seines Verfahrens hoffen. Sogar das Zentralbüro für Statistik solle, so war aus der Regierung zu hören, seine Daten regierungsfreundlicher gestalten.
In einem sind sich Gegner wie Befürworter einig: Die Abschaffung der richterlichen Abwägung soll nur den Anfang machen. Danach wollen die Reformer alles, was die Opposition nicht will: Die Wahl neuer Richter ohne Mitsprache der Opposition. Rechtsberater der Regierung und Ministerien sollen austauschbar statt unkündbar werden. Und vieles andere mehr. Itamar Ben Gvir, selbst erklärter Rassist, mehrfach vorbestrafter Terrorsympathisant, Wehrdienstverweigerer und jetzt Minister von Netanjahus Gnaden, sieht es so: "Das waren bislang nur die Appetithäppchen, der Hauptgang kommt noch."
Schon warnen Direktionen von Großkonzernen wie auch deren Betriebsräte vor drohenden wirtschaftlichen Konsequenzen. Etwa einknickende Auslandsinvestitionen oder weltweit schwindende Kreditwürdigkeit.
Was Israel aber vor allem aufwühlt, ist die starke Beteiligung der Reservesoldaten an den Protesten: Allen voran die Elite-Einheiten. Israels Armeechef Herzi Halevi warnte die Soldaten: "Besser eine gesicherte Diktatur, als eine verteidigungslose Anarchie." Was die Vertreter der Reservisten konterten: "Die Entscheidung fällt nicht zwischen Diktatur und Anarchie, sondern Diktatur und Demokratie." Auch Halevi warnte die Regierung vor den Folgen der Proteste: "Israels Wehrfähigkeit steht auf dem Spiel."
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