Hartz-IV-Urteil: Darf man das Existenzminimum weiter kürzen?

Hartz-IV-Urteil: Darf man das Existenzminimum weiter kürzen?
Leistungskürzungen, mit denen Jobcenter unkooperative Hartz-IV-Bezieher sanktionieren, sind teilweise verfassungswidrig.

Darf der Staat Menschen, die vom Grundeinkommen leben, den Geldhahn zudrehen? Darüber hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag entschieden. Leistungskürzungen, mit denen Jobcenter unkooperative Hartz-IV-Bezieher sanktionieren, sind teilweise verfassungswidrig, so das Urteil.

Demnach sind Kürzungen bei Verstößen gegen die Auflagen um maximal 30 Prozent möglich. Die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung der Mitwirkungspflicht um 60 oder sogar 100 Prozent sind verfassungswidrig, wie der Vizepräsident des Gerichts, Stephan Harbarth, verkündete.

Fördern und Fordern

"Fördern und Fordern": Dieses Prinzip gilt seit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV unter Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2005 für Bezieher der Grundsicherung.

Was steckt dahinter? Wer staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, verpflichtet sich, auch aktiv daran mitzuarbeiten, dass das so bald wie möglich nicht mehr notwendig ist. Schlagen Hartz-IV-Bezieher Jobangebote aus oder weigern sich, an Fördermaßnahmen teilzunehmen, greift das "Fordern" und ihnen drohen empfindliche Kürzungen beim Hartz-IV-Satz. "Der Sozialstaat muss ein Mittel haben, die zumutbare Mitwirkung auch verbindlich einzufordern", sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Jänner. 

Betroffene bekommen drei Monate weniger Geld. Wer ohne triftigen Grund einen Termin versäumt, büßt etwa zehn Prozent des sogenannten Regelsatzes ein. Dieser liegt für alleinlebende Erwachsene bei 424 Euro monatlich (432 Euro ab 2020). Wer ein Jobangebot ausschlägt oder eine Fördermaßnahme abbricht, setzt 30 Prozent aufs Spiel, beim zweiten Mal in einem Jahr 60 Prozent. Beim dritten Mal entfällt das Arbeitslosengeld II komplett, samt Heiz- und Wohnkosten. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren wird noch härter durchgegriffen.

2018 haben Jobcenter rund 904.000 Sanktionen verhängt, in gut drei Viertel der Fälle wegen nicht eingehaltener Termine. Um die gravierenderen Verfehlungen geht es bei knapp jeder fünften Sanktion. Weil es dieselbe Person auch mehrfach treffen kann, ist die Zahl der Betroffenen niedriger. Vergangenes Jahr waren es insgesamt 441.000. Damit waren 8,5 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger mindestens einmal von einer Sanktion betroffen. Nach den Vergleichszahlen für den Monat Dezember wurden im Durchschnitt 109 Euro gestrichen.

Im Jahr 2014 wurden einem Hartz-IV-Empfänger aus Erfurt Zahlungen gestrichen: Erst 117,30 Euro, in einem zweiten Schritt wuchs der Betrag auf 234,60 Euro. Ihr Mandant hatte 2014 eine Stelle als Lagerarbeiter abgelehnt, weil er lieber in den Verkauf wollte, so Susanne Böhme, Anwältin des Hartz-IV-Empfängers aus Erfurt. Zum Probearbeiten erschien der Mann nicht. Dass ihm deshalb die Leistungen gekürzt wurden, hält Böhme für verfassungswidrig. Rückenwind bekommt sie vom Sozialgericht im thüringischen Gotha. Es hält die Sanktionen ebenso für verfassungswidrig. Die Richter dort haben wegen des Falls das Bundesverfassungsgericht eingeschaltet. Sie meinen: Wenn Hartz IV das Existenzminimum sichert, gibt es keinen Spielraum für Kürzungen. Der Staat lasse Menschen in soziale Isolation, Krankheit, Schulden und Obdachlosigkeit abgleiten.

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