Halloween: "Hexen waren Frauen nach der Menopause"

Eine Silhouette einer Hexe, die auf einem Besen vor einem dunklen Himmel fliegt.
Die australische Literaturprofessorin Diane Purkiss erklärt die Faszination für Hexen und Hexerei – und wie sich Hexenverfolgungen gerade "wiederholen".

Halloween ist Hauptsaison für Hexen und Hexerei; Diane Purkiss begleiten die Themen das ganze Jahr über. Die 64-jährige Australierin ist Literaturprofessorin an der Universität Oxford. 

Wie erklärt sie sich die Faszination für Hexerei – am 20. November kommt der zweite Teil von Wicked in die österreichischen Kinos und wieso ereignete sich eine der größten Hexenjagden in Salzburg?

KURIER: Warum verkleiden wir uns an Halloween so gern als Hexen?

Diane Purkiss: Ich glaube, das hat mit einer Vorstellung von Macht zu tun. Es spricht Menschen an, die sich im Alltag ohnmächtig fühlen. Da ist der Fantasie-Gedanke schön, dass man alle verhexen könnte. Wenn ich Vorträge über Hexerei halte, sind meine Zuhörerinnen und Zuhörer – und das ist keineswegs abwertend gemeint –  oft diejenigen mit pinkem Haar und mehreren Piercings. Ich denke, das ist eine kraftvolle Art zu sagen: „Ich bin eine Außenseiterin und ich respektiere mich dafür“, statt: „Ich bin eine Außenseiterin, weil andere mich ausgeschlossen haben.“

Headshot of a Uni Lecturer

Literaturhistorikerin Diane Purkiss hat Hexen seit Jahrzehnten studiert und unterrichtet in Oxford.

Die pinken Haare erinnern an die grüne Haut von Elphaba, der bösen Hexe des Westens, in der Musicalverfilmung Wicked

… und diese grüne Haut ist in Der Zauberer von Oz entscheidend. Sie scheint sowohl zu symbolisieren, dass Elphaba ein Monster ist, als auch, dass sie als hässlich gelesen werden muss.

Weil Grün hässlich ist?

Weil Grün als Hautfarbe unnatürlich ist. Aber das ist eigentlich willkürlich. Es gibt keinen Grund, warum wir grüne Haut als abscheulich empfinden sollten. Ich denke, das ist einer der Punkte, die Wicked machen will.

Zeigt Wicked, wie wichtig es ist, dass Außenseiter ihre Geschichten selbst erzählen können?

Absolut. Wicked ist Teil einer ganzen Reihe von Neuerzählungen. Shrek ist ein weiteres Beispiel. Oder Maleficent mit Angelina Jolie, das Dornröschen aus der Perspektive der „bösen“ Gegenspielerin neu erzählt. Es gibt ein wachsendes kulturelles Bedürfnis, sich mit derjenigen zu solidarisieren – oder zumindest ihre Geschichte zu hören – die einst als böse verstoßen wurde. Eine Revision, die im Zusammenhang mit modernem Heidentum steht: eine Interpretation von Religion, die sich auf die Wünsche, Lebensgeschichten und Bedürfnisse von Frauen konzentriert. Ich finde das sehr cool.

Cynthia Erivo und Ariana Grande posieren vor dem „Wicked“-Filmposter.

Sie erwähnen in Ihren Vorträgen, dass jene, die der Hexerei beschuldigt wurden, meist Frauen nach der Menopause waren. Warum?

Weil sie das Konzept dessen störten, wofür eine Frau da sein sollte: Frauen sollten Kinder gebären, Kinder großziehen und Hausarbeit machen. Frauen nach der Menopause passten nicht in diese Rolle. Es stellte sich fast eine philosophische Frage: Warum existieren sie weiterhin? Warum sind sie noch da?

In einer patriarchalen Gesellschaft ...?

Natürlich. Und nach der Menopause gelten Frauen auch als weniger feminin – ihre Taille ist vielleicht nicht mehr so schmal, sie bekommen Gesichtshaare… Eine postmenopausale Frau lässt sich schwer einordnen, wenn man eine Frau als 25-Jährige versteht.

Aber warum hat man sie so sehr dämonisiert?

Weil sie auch eine soziale Fürsorgekrise darstellten. In England fielen die Hexenprozesse mit zwei Ereignissen zusammen: der Auflösung der Klöster und der Kleinen Eiszeit. Die Kleine Eiszeit senkte die globalen Temperaturen um etwa 1,5 Grad Celsius. Das führte zu schweren Stürmen und katastrophalen Ernten. Weizenanbau wurde fast unmöglich; es herrschte großer Hunger. Gleichzeitig fiel durch die Auflösung der Klöster ein wichtiges soziales Sicherheitsnetz weg – sie hatten als Altenheime gedient. Plötzlich mussten die Gemeinden Ältere versorgen - und gewöhnliche Menschen sollten dafür zahlen; das erzeugte Ressentiments.

Wut auf eine vulnerable Gruppe also. Kommt einem bekannt vor.

Menschen neigen dazu, nach unten zu treten statt nach oben. Gerade in Ihrer Stadt Salzburg gab es eine der außergewöhnlichsten Hexenverfolgungen der europäischen Geschichte: die Zauberjackl-Prozesse.

Worum ging es dabei?

Ende des 17. Jahrhunderts wurden 139 Menschen – fast alle Buben – hingerichtet. Ausgelöst wurde das Ganze durch die Panik, dass unter den Straßenjungen Salzburgs ein „Zauberbub“ die anderen in eine Verschwörung gegen die Bürger verstrickt habe.

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Glaubten die Leute wirklich, dass die Angeklagten Hexen seien – oder war das ein Vorwand, sie loszuwerden?

Das kommt darauf an. Nehmen wir an, Sie haben Streit mit Ihrem Nachbarn über den Verlauf einer Hecke – und Sie könnten das Problem lösen, indem Sie dafür sorgen, dass Ihr Nachbar für den Rest seines Lebens im Gefängnis sitzt oder hingerichtet wird. Aber oft glaubten die Leute tatsächlich daran – und dieser Glaube funktioniert ähnlich wie moderne Verschwörungstheorien.

Inwiefern?

Menschen mögen den Gedanken nicht, dass Dinge zufällig geschehen. Eine gängige Logik lautet: Wenn du Glück hast, musst du mir Glück wegnehmen. Wenn dein Garten mehr Tomaten hervorbringt als meiner, kann das nicht an Erde oder Fleiß liegen – es muss Hexerei sein. Heute sieht man Ähnliches beim Knackthema Migration. Oft sind jene Menschen kritisch, die sich in ihrem eigenen Leben eingesperrt fühlen – und jemanden suchen, der ihnen das „rechtmäßig“ Zugehörige weggenommen haben muss.

Was wäre ein Ausweg daraus?

Historisch endeten Hexenjagden, als der Wohlstand stieg. Mit dem Wachstum des Britischen Empire erlebten Durchschnittsbürger einen deutlichen Anstieg ihres Lebensstandards. Ironischerweise fühlen sich heute, selbst in Ländern wie den USA, viele Menschen nicht so, als hätten sie Anteil an diesem Erfolg. 

Hat Social Media verändert, wie wir ein „gutes Leben“ definieren?

Es gibt eine Art modernen Zwang – einen, der schon zur Zeit der Hexenprozesse begann –, nämlich etwas kaufen zu müssen, weil es alle anderen haben. Letztlich war das der Grund für den Hexenhut: Er lässt sie als altbacken erscheinen und entschärft sie. Sie ist nicht länger bedrohlich, nur aus der Mode gekommen.

Bedrohungsgefühle spielen in England ja immer noch eine große Rolle.

Ja. Ein wichtiger Antrieb aktueller rechtsextremer Demonstrationen ist die Vorstellung, dass Flüchtlinge auf Kosten der Steuerzahler in Hotels untergebracht werden. In Wirklichkeit sind diese Hotels oft baufällig, aber die Idee empört die Menschen. Hier könnte Medienberichterstattung helfen – indem man zeigt, wie das Leben in diesen Hotels wirklich aussieht: das Essen, der Schimmel an den Wänden. Das könnte dieses Gefühl der Verbitterung mindern.

Weil vieles auf Neid zurückzuführen ist?

Nicht nur auf Neid – sondern auch auf Ohnmacht. Dieses Verlangen, wieder handlungsfähig zu sein, wieder Kontrolle zu spüren. Vielleicht ist es also gar nicht so schlecht, wenn Menschen sich als Hexen verkleiden, um sich mächtig zu fühlen.

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