Israelische NGO: "Keine Selbstverteidigung, einfach nur vorsätzlicher Völkermord"

ISRAEL-PALESTINIAN-CONFLICT-GAZA-PROTEST
Die israelische NGO B`Tselem erhebt in ihrem Bericht "Our Genocide" schwere Vorwürfe gegen Israels Regierung.

Von Franziska Trautmann

Sprecher Yair Dvir warnt vor dem Vorgehen im Westjordanland - und sieht Europa in der Pflicht. 

KURIER: In Ihrem Bericht „Our Genocide“ erheben Sie schwere Vorwürfe gegen Israels Regierung. Woran können Sie sie festmachen? 

Yair Dvir: Unsere Hauptbotschaft lautet, dass wir als israelische Menschenrechtsorganisation ganz klar beobachten, dass Israel in den letzten 22 Monaten absichtlich die Bevölkerung in Gaza angreift. Anhand mehrerer Praktiken sehen wir einen vorsätzlichen und systematischen Angriff auf die Bevölkerung, was der Definition von Völkermord entspricht. 

Wie haben Sie sich auf ihre Quellen verlassen können, wenn Sie nicht selbst im Gazastreifen vor Ort waren?

Wir haben palästinensische Feldforscher im Westjordanland und im Gazastreifen. Einige Monate nach dem 7. Oktober gelang es uns, unseren Feldforschern aus dem Gazastreifen zur Flucht nach Ägypten zu verhelfen. Sie stehen jedoch weiterhin in Kontakt mit ihren Familien und Bekannten in Gaza und sammeln Augenzeugenberichte. Die Informationen in diesem Bericht basieren auch auf zahlreichen Untersuchungen und Daten, die von vielen anderen Organisationen veröffentlicht wurden. Da wir hier leben, haben wir darüber hinaus zahlreiche Aussagen der israelischen Führung gesammelt, die die genozidalen Ziele des israelischen Angriffs deutlich machen.

Gab es schon eine Reaktion der israelischen Regierung auf Ihren Bericht? Falls ja, welche?

Zwei oder drei Wochen nach der Veröffentlichung unseres Berichts erhielten wir Hunderte Interviewanfragen von internationalen Medien. Aber in Israel haben die meisten Menschen, fast 90 Prozent der Bevölkerung, noch nicht einmal von diesem Bericht gehört. Die israelischen Medien berichten nicht darüber. Das ist ein Beispiel, wie die israelische Öffentlichkeit unter dem Einfluss der Regierungspropaganda und der Mobilisierung der israelischen Medien völlig den Bezug zur Realität vor Ort verloren hat.

Welche Wirkungen haben Sie sich erhofft?

Wir wollen damit mehr Menschen die Augen öffnen, was wirklich im Namen von Israel geschieht. Das ist kein Krieg und keine Selbstverteidigung, das ist einfach nur vorsätzlicher Völkermord. Unser Hauptziel ist es daher, internationale Entscheidungsträger und Gemeinschaften dazu aufzurufen, nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln und mit allen Mitteln das Völkerrecht einzusetzen, um den Völkermord in Gaza zu stoppen. Natürlich nach internationalem Recht.

Sie schreiben, dass selbst „humanitäre Zonen“ und Rettungskräfte gezielt angegriffen wurden. Was sagt das über die israelische Kriegsführung aus? Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir sehen beispielsweise, wie Israel systematisch das Gesundheitssystem in Gaza zerstört. Die meisten Krankenhäuser sind vernichtet worden. Gleichzeitig verhindert Israel, dass Unterstützung ins Land kommt und tötet absichtlich Hilfskräfte. Die UNRWA, das wichtigste UN-Hilfswerk im Gazastreifen, wird daran gehindert, vor Ort zu arbeiten, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Daran sieht man auch, wie Israel humanitäre Hilfe als zynisches Instrument einsetzt, um die ethnische Säuberung in Gaza voranzutreiben.

96 Prozent der Kinder in Gaza sollen das Gefühl haben, der Tod sei unausweichlich. Wie lässt sich eine Gesellschaft nach so einer kollektiven Traumatisierung wieder aufbauen?

Ich denke, solange der Völkermord noch andauert, ist es sehr schwer vorstellbar, wie es danach sein wird. Man weiß nicht, wann und wie das Ende sein wird. Natürlich ist es die Absicht der israelischen Regierung, ihr Vorgehen dann zu beenden, wenn keine Palästinenser mehr im Gazastreifen leben. Ich als israelischer Jude beispielsweise, der in der dritten Generation von Holocaust-Überlebenden lebt, denke, für einen Teil der Gesellschaft ist das Trauma vom Holocaust auch nach 80 Jahren nicht vergessen. Ich glaube, es würde Generationen dauern, bis das, was in Gaza passiert, verheilt ist.

Der Genozid an den Palästinensern könnte - so schreiben Sie - in der Zukunft erweitert werden. Inwiefern?

Unter einem Regime, das Völkermord begeht, ist das Leben aller Palästinenser verloren. Dies gilt sicherlich für die Palästinenser im Westjordanland, aber auch für Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Dasselbe Regime, das unter der Logik der jüdischen Vorherrschaft Völkermord in Gaza begeht, ist das Regime, das die Palästinenser im gesamten Gebiet zwischen dem Fluss und dem Meer kontrolliert. Wir erleben dort bereits einen dramatischen Anstieg der Gewalt gegen Palästinenser: Im Westjordanland werden Palästinenser von Israelis ohne jegliche Konsequenzen getötet, ganze Gemeinden vertrieben und Tausende verhaftet. Die Sorge ist, dass das israelische Regime, sobald es einen Auslöser gibt, den Völkermord auch auf das Westjordanland ausweiten wird.

Was müsste Europa konkret tun, um die Situation im Gazastreifen zu verbessern?

Die internationale Gemeinschaft verfügt über zahlreiche Instrumente. Insbesondere Europa unterhält unterschiedliche Beziehungen zu Israel. Diese Instrumente können genutzt werden, um Druck auszuüben. Es erfordert Mut, das Richtige zu tun, und Worte allein reichen nicht aus – wir brauchen konkrete Schritte.

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