Tausende Kinder von Hungertod bedroht: So schlimm ist die Lage in Gaza

Palästinenser warten darauf, in Gaza-Stadt von einer Wohltätigkeitsküche Essen zu erhalten.
In Gaza verschärft sich die humanitäre Situation, während Hilfslieferungen an geschlossenen Grenzen scheitern. Zwei Experten üben Kritik an Israel.

Von Franziska Trautmann

Täglich hungern mehr als eine halbe Millionen Menschen in Gaza. Dem Tod zu entrinnen, grenzt für sie mittlerweile an ein Wunder. Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC), eine globale Initiative für Ernährungssicherheit, gab in einer neuen Analyse bekannt, dass die in Gaza verbreitet Hungersnot sich nicht nur rasant ausbreitet, sondern auch vermeidbar wäre. Mit einem sofortigen Waffenstillstand zwischen Israel und der in Gaza regierenden Terrororganisation Hamas könnte ungehindert humanitäre Hilfe in den Gazastreifen kommen. Tausende Menschen könnten damit gerettet werden. 

Hungertod ist vermeidbar

Nach fast zwei Jahren Krieg, ständiger Vertreibung und stark eingeschränktem Zugang zu humanitärer Hilfe spitzt sich die Situation in Gaza immer weiter zu. Krankenhäuser sind zerstört, ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt es nicht mehr. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen ist kaum vorhanden. Krankheiten und Hunger breiten sich zunehmen aus.

Mittlerweile verbringen Hunderttausende Menschen mehrere Tage ohne Nahrung. Zwar sind seit Juli die Lebensmittel- und Hilfslieferungen nach Gaza leicht gestiegen, reichen aber im Vergleich zum Bedarf bei weitem nicht aus. 

Dazu kommt, dass sich die Verteilung von Hilfsgütern meist schwieriger gestaltet als erhofft. Immer wieder werden Lastwägen abgefangen und geplündert. Einerseits von verhungernden und verzweifelten Menschen, andererseits laut mehreren Berichten auch von bewaffneten Hamas-Kämpfern. Nach Angaben des Büros für Projektdienste der Vereinten Nationen (UNOPS) sind zwischen Mai und August 88 Prozent der Lastwägen von ihrer Route abgekommen. 

Trotz der undurchsichtigen Lage plädieren mehrere UN-Organisationen für einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand, um genügend lebensrettende humanitäre Maßnahmen zu ermöglichen.

170.000 Tonne Essen vor geschlossenen Grenzen

Auch Martin Frick, Direktor des Global Office des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) in Berlin, sieht die Situation in Gaza kritisch. In einem Interview mit dem KURIER erzählt er: "Fast die gesamte gebaute Struktur im Gazastreifen ist zerstört. Familien suchen im Müll nach Essen und selbst da ist nichts mehr zu finden. Es wird verunreinigtes Wasser getrunken, das man eigentlich gar nicht mehr trinken dürfte, worauf die Menschen natürlich krank werden. Es gibt praktisch keine medizinische Versorgung. Babys werden weit vor der Zeit geboren, weil die Mütter so unterernährt sind. Und wir haben die gesamte Altersgruppe der Kinder unter sechs Jahren so drastisch unterernährt, dass 12.000 an schwerer, akuter Mangelernährung leiden und ein Viertel von Ihnen unmittelbar vom Tod bedroht sind.“

Wenn sich nicht bald etwas ändert, dann würden laut ihm im September eine halbe Million Menschen vom Hungertod bedroht sein. Das tragische: es gibt die Ressourcen, um ein Massensterben zu verhindern. Allein das WFP hat 170.000 Tonnen Lebensmittel transportbereit, um in den Gazastreifen gebracht zu werden. „Technisch und logistisch gesehen, ist alles am Platz. Praktisch  fehlt uns Zugang im nötigen Umfeld. Wir brauchen offene Grenzen und eine schnelle unbürokratische Abwicklung ohne weitere Verzögerungen, um noch Schlimmeres zu vermeiden. Wir müssen davon ausgehen, dass sonst unzählige Menschen verhungern “, sagt Frick.

Palästinensische Feldforscher geben Einblick 

Der KURIER hat auch mit Yair Dvir, Pressesprecher von B´Tselem, eine der bekanntesten Menschenrechtsorganisationen in Israel, gesprochen. In ihrem neuen Bericht „Our Genocide“ hat die Organisation das Vorgehen der israelischen Regierung kritisiert und die Zustände im Gazastreifen, für internationale Medien eher unzugänglich, offengelegt. 

„Wir sehen beispielsweise, wie Israel systematisch das Gesundheitssystem in Gaza zerstört. Die meisten Krankenhäuser sind vernichtet worden. Gleichzeitig verhindert Israel, dass Hilfe ins Land kommt. Sie töten absichtlich Hilfskräfte. Die UNRWA, das wichtigste UN-Hilfswerk im Gazastreifen, wird von Israel daran gehindert, in Gaza zu arbeiten, wo es am dringendsten gebraucht wird“, erzählt Dvir. Israel bestreitet diese Vorwürfe und spricht von Kollateralschäden.

Ihre Informationen haben sie von palästinensischen Feldforschern aus dem Westjordanland und Gazastreifen. Laut Dvir konnte B´Tselem einige Monate nach dem 7.Oktober 2023 ihre Mitarbeiter aus dem Gazastreifen und nach Ägypten bringen „aber sie stehen weiterhin in Kontakt mit ihren Familien und Bekannten im Gazastreifen und sammeln so Zeugenaussagen.“ 

Der Bericht sorgt zwar international für Aufsehen und gibt Einblicke in die katastrophale Lage vor Ort, in Israel findet er laut Dvir wenig Gehör: „Zwei oder drei Wochen nach der Veröffentlichung unseres Berichts erhielten wir Hunderte Interview-Anfragen internationaler Medien. Aber in Israel haben die meisten Menschen, fast 90 Prozent der Bevölkerung, noch nicht einmal von diesem Bericht gehört. Israelische Medien berichten nicht darüber.“

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