Albanien: Die Angst ist verflogen, aber der Staat soll bitte weit weg bleiben

Albaner schwenken ihre Fahne
Familie, Freunde, der Clan – über Jahrhunderte hinweg bis heute waren sie es, nicht der Staat, die das Überleben sicherten. Die traditionelle Skepsis gegenüber der Macht bremst das kleine Land bis heute.
Ingrid Steiner-Gashi

Ingrid Steiner-Gashi

Nie zuvor ist Albanien einem Ticket für die Fußball-WM so nahegekommen: Aber erst Ende März 2026, wenn sich die „Kuqezinjtë“, wie der Spitzname für die albanische Nationalmannschaft lautet, durch die Play-off-Phase gekämpft haben, wird sich zeigen, ob sich das kleine Balkanland einen seiner größten Träume erfüllen kann: bei der Fußball-WM in den USA dabei zu sein.

Nichts und niemand eint die rund 2,7 Millionen Albanerinnen und Albaner so sehr wie die Begeisterung über ihre Ballhelden. Sie nehmen es mit den Fußball-Giganten der Welt auf, sie machen stolz, sie vermitteln immense Bedeutung für ein Land, das sonst meist nur mit Armut, Protesten und Auswanderungswellen in die Schlagzeilen kommt.

Ende des Kommunismus

Vor 33 Jahren endete in Albanien der Eisengriff des Kommunismus. Nirgendwo in Europa war die linke Diktatur grausamer und erbarmungsloser, das Land hermetisch abgeschotteter als im Reich von Machthaber Enver Hoxha. Eine ganze Generation danach durchlebte Wellen politischer Unruhen und Chaos. Die von früherer Gewalt und Unterdrückung traumatisierte Gesellschaft lernte dabei eines: Dem Staat, auch wenn er seine Bürger heute für abweichende Meinungen nicht mehr einsperrt, ist nach wie vor nicht zu trauen.

Die Albaner und ihr Staat – „das ist eine komplizierte Beziehung“, schildert der albanische Politik- und Strategieberater Neritan Sejamini. „Und das ist das Erbe unserer Vergangenheit: Auf fast vier Jahrhunderte unter dem Osmanischen Reich folgten eine kurze, fragile Unabhängigkeit, dann eine Invasion nach der anderen, dann der Kommunismus und später schwache Regierungen mit hoher Korruption. Die Beziehung der Albaner zu ihren Regierungen ist also bis heute eine distanzierte geblieben“, führt der Wissenschaftler gegenüber dem KURIER aus.

„Der Staat wird eher als etwas angesehen, von dem sie sicherstellen wollen, dass er ihnen nicht zu nahe kommt und ihnen nicht schadet.“

A general view of the redesigned pyramid, which was a museum for the communist dictator Enver Hoxha, in Tirana

Tirana - und das umgebaute Mausoleum von Ex-Diktator Enver Hoxha

Misstrauen

Angst sei das nicht, bestätigt auch Esiona Konomi. Sorge, dass die persönliche Freiheit eingeschränkt werde, wie es ältere Albaner und Albanerinnen erlebt hatten, quäle niemanden mehr, sagt die junge Journalistin. „Die Menschen empfinden den Staat eher als inkompetent denn als unterdrückerisch.“

Das zeige sich im großen Misstrauen gegen Regierung und Politiker im Allgemeinen, gegen Polizei, Behörden – kurz gesagt gegen eigentlich alle. „Als die derzeit vertrauenswürdigste Institution in Albanien gilt die Sonderstaatsanwaltschaft gegen Kriminalität und Korruption (SPAK).“ Unterstützt von den USA und der EU, hat sich die Sonderstaatsanwaltschaft einen hervorragenden Ruf bei den Ermittlungen gegen Bürgermeister, Richter, Minister und sogar ehemalige Präsidenten erworben.

Doch trotz des verschärften Kampfes gegen die Korruption – eine der Bedingungen für einen EU-Beitritt – liegt Albanien im Korruptionswahrnehmungsindex nur auf Platz 80 von 180 untersuchten Ländern (hinter dem ebenfalls albanisch bewohnten Kosovo, Platz 73, aber noch klar vor Serbien, auf Platz 105).

Wer sein Haus um ein Stockwerk erhöhen will, eine Lizenz braucht oder einer Strafe entgehen will, greift nur allzu oft weiterhin zur gewohnten Methode: dem zuständigen Beamten, Politiker, der Person mit Einfluss ein paar Scheine zuzustecken oder einen sonstigen Gefallen zu tun.

So war es in Albanien, so war es auf dem ganzen Balkan über Jahrzehnte angesichts eines wenig wohlwollenden Staates unumgänglich: „Man war traditionell auf die sozialen Netzwerke und die familiären Bindungen angewiesen, um das wirtschaftliche und soziale Leben zu organisieren“, sagt Politologe Sejamini.

Gute Verbindungen

Doch heute seien es genau sie – die persönlichen Verbindungen, die Familien, der Clan, der Klientelismus – die den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu einem funktionierenden Staat bremsten, analysiert der Experte. „Diese Mentalität ist eines der Haupthindernisse für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Denn wenn es dein Freund ist oder dein Verwandter, dann gilt das Gesetz nicht. Aber letztlich muss man an das Gesetz glauben.“

So durchdringend sich die Skepsis vieler Menschen gegenüber dem Staat anfühlt, so stark fühlen sich viele als Patrioten. „Emotional gesehen ja“, meint auch Esiona Konomi, „sie empfinden starken Nationalstolz. Aber praktisch gesehen schwächt die Frustration des Alltags diesen Patriotismus.“

Zu wenig Perspektiven

Denn Alltag in Albanien - das sind nach wie vor zu wenige Jobs, zu niedrige Löhne, zu hohe Lebenshaltungskosten – zu wenig Perspektiven für ein gutes Leben. Rund 830 Euro betrug der monatliche Durchschnittslohn im Vorjahr. Zu wenig, um jene jungen Menschen im Land zu halten, die im benachbarten Italien, in Deutschland, Österreich Jobs finden, besser verdienen oder eine bessere Ausbildung erhalten können.

Die Folge: „Viele Menschen, fast 40 Prozent der Bevölkerung, haben ihr eigenes Land für immer verlassen. Also ich weiß nicht, ob das für großen Patriotismus steht: auch wenn viele Emigranten Geld an ihre Familien zurückschicken und versuchen, Sprache und Kultur zu bewahren“, sagt Neritan Sejamini.

Aber im eigenen Land zu bleiben, Vertrauen in die Zukunft aufzubauen – das kann ohne Vertrauen in den eigenen Staat und die eigene politische Führung nicht funktionieren. Das Paradoxe dabei: „Auf der einen Seite misstraut man der Regierung, aber auf der anderen Seite sehen die Albaner die Regierung als instrumentell, erwarten, dass sie alles für sie tut,“ beobachtet der Politologe.

Aus seiner Sicht müssten sich alle Seiten bewegen: Der albanische Staat müsste effizienter und weniger korrupt werden sowie besser für seine Bürger sorgen. Auf der anderen Seite aber dürften sich auch die Bewohner nicht mit der ewigen Klage aufhalten lassen: „Die Regierung tut nichts für mich – also warum sollte ich etwas für sie tun?“

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