Jetzt war er endlich da, der Beweis. „Die Ukraine hat die Kapazitäten, um eine ,schmutzige Bombe’ zu bauen“, twitterte das russische Außenministerium kürzlich. Darunter zu sehen: ein Bild von radioaktivem Abfall aus Slowenien, den Kiew dafür angeblich nutzt.
Das Problem dabei: Das Bild zeigt keinen Atommüll, sondern lediglich ausrangierte Rauchmelder. Das stellte die slowenische Regierung auch schnellstens klar. Moskau interessierte das Dementi allerdings herzlich wenig.
Dass der Kreml den Westen „trollt“, falsche Behauptungen aufstellt oder bewusst in die Irre führt, ist keine „Nebenfront“ des Kriegs gegen die Ukraine. Die Verdrehung der Wahrheit war schon in der Sowjetzeit gelebte Praxis des Kreml, „Lackierung der Realität“ sagten die Russen damals halbironisch dazu. Dem „Außenfeind“ wurden teils hanebüchene Dinge unterstellt, und nach innen wurde dafür die Wirklichkeit geschönt. Legendär waren die Versuche, Leonid Breschnews Krankheiten zu verschleiern – der Sowjetführer konnte nach Schlaganfällen nicht mehr sprechen und war amtsunfähig, und das jahrelang.
Die Kreml-Wahrheit
Wladimir Putin hat diese altbewährte Praxis mit Beginn der Invasion noch intensiviert. Den Angriff selbst argumentierte er im Februar mit einem „Genozid“ und der Deportation der Russischsprachigen im Nachbarland, den Ukrainern unterstellte er nationalsozialistische Gesinnung. Dafür legten seine Ministerien und TV-Sender oft offensichtlich gefälschte Beweise vor: Die Bilder, mit denen Moskau etwa zeigen wollte, dass ukrainischen Schauspieler die Massaker in Butscha nur „gefaked“ haben, stammten aus einem Filmdreh aus St. Petersburg. Das stellte die russische Regisseurin auch klar – öffentlich.
Das war nicht das erste Mal, dass Kreml-Anwürfe von eigenen Bürgern als Lügen entlarvt wurden. Dennoch verfangen die Geschichten bei vielen Russen: Seit Beginn der Invasion gibt der russische Staat dreimal so viel Geld für seine gelenkten Medien aus wie zuvor; die Redaktionen werden streng vom Kreml kontrolliert. Wer nicht auf Linie berichtet, muss gehen oder wird teils sogar strafrechtlich verfolgt. Da gut 90 Prozent der Russen ihre Informationen aus dem Fernsehen beziehen, ist die Kreml-Wahrheit oft die einzige Wahrheit.
Beweis der Stärke
Dass die Russen aufgrund der Repressionen keine Möglichkeit hätten, die Kreml-Propaganda zu hinterfragen, stimmt jedoch nicht. Gerade viele junge, urbane Menschen haben durchaus Zugang zu alternativen oder ausländischen Medien, sie erreichen sie via – an sich verbotenem – VPN-Zugang. Die VPN-Services boomen derzeit wie nie, vor allem in den Großstädten Moskau und St. Petersburg.
Der Kreml weiß das, toleriert es allerdings. Auch das hat einen Grund, wie russische Experten sagen: Wenn der Kreml zu offensichtlich lügt, wenn die „Wahrheit“ also selbst für den gemeinen Russen zu durchsichtig ist, um sie zu glauben, habe das nämlich Methode. Dass man dem „Feind“ im Westen offen ins Gesicht lügen könne, und der sich dann davon auch noch beeindrucken lasse, werde als Zeichen der eigenen Stärke wahrgenommen – und als lachhafte Schwäche des Gegners.
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