Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen: "Ich habe großes Mitgefühl für Mark Zuckerberg"
Frances Haugen war eine hoch bezahlte Managerin bei Facebook. Nachdem sie das Unternehmen verlassen hatte, enthüllte sie, wie der Social-Media-Gigant von Desinformation profitiert
Profitgier, Verheimlichung, Schüren von Hass, Falschinformationen – das waren einige der Punkte, die Frances Haugen nach drei Jahren bei Facebook gegen den Strich gingen. So sehr, dass die 39-Jährige kündigte und der US-Börsenaufsicht und dem The Wall Street Journal umfangreiche, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Dokumente zuspielte. Gründer Mark Zuckerberg musste sich deshalb einer Anhörung im US-Senat stellen.
Haugens Buch „Die Wahrheit über Facebook. Warum ich zur Whistleblowerin wurde und was die größte Social-Media-Plattform der Welt so gefährlich macht“ ist gerade erschienen.
KURIER:Sie begannen 2018 bei Facebook. Wann wussten Sie, dass etwas nicht stimmt? Frances Haugen: Relativ früh, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Während der ersten sechs Monate von Covid im Jahr 2020 lebte ich bei meinen Eltern in Iowa. Das gab mir Abstand. Ich konnte mit meinen Eltern über meine Bedenken sprechen, und das war ein Segen. Viele Whistleblower leiden im Stillen, weil sie niemanden haben, mit dem sie reden können.
Facebook soll bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 Trump-Fans eine Plattform gegeben haben, auf der sie Fake News verbreiten konnten. Sie haben bei der Auswahl des demokratischen Kandidaten Ungereimtheiten entdeckt – wann entschieden Sie sich, an die Öffentlichkeit zu gehen?
Mein erster Weckruf war die Vorwahl (Caucus) in Iowa, wo ich die verantwortliche Person bei Facebook fragte, welche Staaten wir unterstützen (Anm.: Gemeint ist, wo Facebook gewissen Kandidaten einen Drall gab). „Die Swing States“, sagte sie, und ich erwiderte: „Ja, aber es wählen ja nur die Demokraten?“ Die Republikaner hatten in Trump bereits ihren Kandidaten. Sie schaute mich an, als wäre ich vom Mond. Sie und andere in hohen Positionen verfügen über zu wenig Kenntnis der Politikwissenschaft und zu wenig wissenschaftliches Bewusstsein, um die Schnittstelle zwischen ihren Technologieentscheidungen und den Auswirkungen auf die Gesellschaft zu verstehen. Sie spielen in einer Liga, die weit über ihren Kenntnissen liegt. Nach der Präsidentschaftswahl im November 2020 wusste ich, dass ich nicht verrückt war und dass etwas wirklich völlig falsch läuft.
Viele Whistleblower outen sich nicht. Hatten Sie Sorgen um Leben oder Karriere?
Einige Leute verglichen mich vor meinem Outing mit Edward Snowden und Reality Winner, die beide gegen Bundesgesetze verstießen, was einem Verbrechen gleichkommt. Ich kam bloß einem unglaublich unbeliebten Unternehmen in die Quere (lacht). Facebook hätte mich hypothetisch verschwinden lassen können, und das war der Grund für mein Outing. Meine Anwälte rieten: Je mehr man sich in der Öffentlichkeit zeigt, desto schwieriger ist es für Facebook, gegen einen vorzugehen. Ich konnte meine Geschichte auf meine Weise erzählen, und deshalb machte ich mir nie Sorgen um meine körperliche Sicherheit. Internet-Stalker sind etwas anderes. Hätte ich mich mit Elon Musk statt Mark Zuckerberg angelegt, wären mich seine leidenschaftlichen Fanboys angegangen, und ich hätte Morddrohungen bekommen. Nur sehr wenige Menschen hegen solch eine Leidenschaft für Mark Zuckerberg.
Was halten Sie persönlich von Mark Zuckerberg?
Ich habe großes Mitgefühl für ihn, weil er nie erwachsen wurde. Er erinnert mich an Menschen, die sehr jung schon Substanzen konsumieren. Leute, die mit 16 zu trinken beginnen, und wenn man sie mit 30 sieht, denkt man: „Wow, du benimmst dich immer noch wie ein Teenager.“ Emotional unreif und unfähig, Konflikte zu lösen. Mark wurde durch die Allein-Eigentümerschaft ein schlechter Dienst erwiesen. Seit seinem 19. Lebensjahr hat er die Kontrolle über Facebook. Ein ganzes System ist darauf ausgerichtet, Mark glücklich zu machen. Alle um ihn herum geben ihm das Gefühl, er sei ein missverstandenes Genie, das verfolgt wird. Es sollte eine Free Mark-Bewegung geben, genau wie Free Britney. Aber dazu gibt es zu viele Leute, die durch und mit ihm gewaltige Geldsummen verdienen. Die wollen, dass er auf Kurs bleibt. Denn ich garantiere Ihnen, wenn die einen neuen CEO einstellen, wird gründlich aufgeräumt, bis in alle Schichten. Es so schade, er hat unbegrenzte Ressourcen. Er könnte Malaria bekämpfen, stattdessen startet er Threads(Anm.: einen Twitter-Konkurrenten).
Wo leben Sie derzeit?
In Puerto Rico. Und das hat auch zu meiner Sicherheit beigetragen, weil man hierher fliegen muss.
Seit 2021 hat sich einiges, aber nicht alles verändert. Wie ist Ihre Beziehung zu sozialen Medien heute und welche Auswirkungen hatten Ihre Handlungen?
Viele meiner Enthüllungen waren nicht überraschend. Es gab eine Menge Leute, die sich die letzten zehn Jahre ganz offen auf der Plattform beschwerten, wie mit Themen wie Menschenhandel, Organisierte Kriminalität, Kartelle, Terrorismus usw. umgegangen wurde. Was sich geändert hat, war, dass wir nun Beweise dafür hatten, dass Facebook wusste, dass es sich um Probleme handelte. Und sie Lösungen hatten, sich aber bewusst entschieden, sich nicht damit auseinanderzusetzen.
Die EU hat strengere Gesetze als die USA. Was müsste passieren, um die Nutzer zu schützen?
Man darf nicht unterschätzen, wie wichtig das Gesetz zu digitalen Diensten in der EU ist. Andere Länder übernehmen Gesetze dieser Art nun ebenfalls. Amerika ist hinten nach. Hier haben wir es immer noch mit Gesetzen zu tun, die lange vor Google geschrieben wurden, im Jahr 1996, und sie beziehen sich auf die Technologie der 1980er-Jahre. Aber wenn man zum durchschnittlichen Amerikaner sagt: „Wir werden die sozialen Medien regulieren“, dann antwortet er: „Das ist gegen die Meinungsfreiheit.“ Facebook gab mehrere Hundert Millionen Dollar aus, um das Narrativ zu verbreiten, dass die einzige Möglichkeit, diese Probleme zu lösen, die Moderation von Inhalten ist, also Zensur.
Was hat die EU denn anders als die USA, als andere Staaten gemacht?
Sie kam aus der anderen Ecke und verwies auf das eigentliche Problem der fehlenden Machtbalance. Facebook müsste transparent sein, Probleme publik machen und erklären, was zur Lösung getan wird, uns Zugriff auf die Daten gewähren, damit wir Fortschritte sehen. Und wenn wir eine Frage stellen, müssen sie antworten. Klingt einfach, aber die Realität ist, dass wir heute in den USA keines dieser Rechte haben. Europa übernahm die Führung. Sie verabschiedeten ihr Gesetz im vergangenen Jahr.
Karriere: Frances Haugen ist eine US-amerikanische Informatikerin.Sie arbeitete von 2018 bis 2021 als leitende Produktmanagerin für Meta Platforms bei Facebook
Outing: Sie erhob schwere Vorwürfe gegen Facebook und enthüllte nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Dokumente
Was halten Sie von Threads, der neuen Erfindung Mark Zuckerbergs, mit dem er Elon Musks Kurznachrichtendienst Twitter künftig Konkurrenz machen will? In den ersten Tagen haben sich dort bereits 100 Millionen Nutzer registriert – das ist der erfolgreichste App-Start aller Zeiten.
Wettbewerb ist gut, aber Elon Musk hat bei Twitter vieles getan, was besorgniserregend ist. Er schaltete die Research-API ab. Zum Verständnis: Vieles, was bei Facebook lief, wurde durch Twitter aufgedeckt, weil es da einen transparenteren Zugriff auf Daten gibt. Twitter löschte die Daten, aber Musk veröffentlichte die Algorithmen, die Twitter antreiben, wie kein anderes Social-Media-Unternehmen dies jemals machte. Was mich bei Threads nervös macht, ist, dass Facebook meint: „Wir wollen, dass Threads eine glücklichere Plattform ist.“ Woher wissen die, was mich glücklich macht? Sicher nicht, dass wir keine repräsentativen Informationen sehen.
Und was halten Sie von Tiktok und dessen engen Verbindungen zu China?
Ein guter Vergleich: User sagen, es macht sie glücklich. Warum? Weil Tiktok zensuriert, welche Postings viral gehen. Die Kehrseite ist, dass das System keine Kritik an der Politik Chinas zulässt. Wenn Mark Zuckerberg sagt: „Wir wollen nicht, dass es in Threads um News und Politik geht, wir wollen, dass es ein fröhlicher Ort ist, wir wollen Twitter ersetzen“, dann sollte uns das zum Nachdenken bringen, denn politische Diskussionen sind eben nicht angenehm. Was viele seit Jahren bei Facebook und Instagram rasend macht, ist, dass man nicht nur die Postings von Menschen und Organisationen sieht, denen man folgt, sondern ununterbrochen mit gezielter Werbung betrommelt wird. Sie selbst können genau wie bei Facebook und Instagram auch Threads nicht so einrichten, dass Sie nur Inhalte Ihrer Freunde sehen. Sie können nicht sagen, ich möchte die Kontrolle zurückgewinnen und die Inhalte erhalten, nach denen ich gefragt habe, und zwar in der Reihenfolge, in der sie eingegangen sind. Der User müsste den Algorithmus steuern, nicht die Plattform.
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