Rechte Revolution im Namen Jesu: Wie Evangelikale die US-Politik bestimmen
Es war ein Mega-Event, das auf den Mord am extremrechten, nationalistischen Christen und US-Influencer Charlie Kirk folgte: seine Trauerfeier am 21. September 2025.
Rund 100.000 Tausend Menschen kamen in und vor das Football-Stadion in Glendale im US-Bundestaat Arizona. Die Szenerie: ein überdimensionales Kreuz, die US-Nationalhymne, politische MAGA-Parolen (Make America Great Again), christliche Gebete, US-Flaggen, Bibelverse. Dresscode: festliche Sonntagskleidung in den Farben der Nationalflagge. Schilder mit der Aufschrift „This is our turning point“ („Dies ist unser Wendepunkt“, in Anlehnung an Turning Point USA, Kirks Organisation) werden von den Pilgern im Stadion hochgehalten.
Was an diesem 21. September in Glendale inszeniert wurde, war eine in Show gegossene Fusion von Politik und Religion.
Am Rednerpult – nach US-Präsident Donald Trump – stand auch der katholische Christ und US-Vizepräsident J. D. Vance. In seiner Ansprache predigte er: „Der böse Mörder, der uns Charlie genommen hat, erwartet, dass wir heute eine Beerdigung abhalten. Aber stattdessen, meine Freunde, haben wir eine Erweckung gefeiert, zu Ehren von Charlie Kirk und seines Herrn Jesus Christus.“
Die religiöse Sprache, untrennbar verflochten mit politischen Botschaften, zeigt: In den USA ist Evangelikalismus längst mehr als privater religiöser Glaube. Erzkonservative Evangelikale und nationalistische Christen sind zur politischen Macht und Elite avanciert.
Teile der evangelikalen Bewegung haben eine einflussreiche politische Infrastruktur entwickelt – mit direkter Wirkung auf Trump, sein Kabinett, die Gesetzgebung und die Gesellschaft.
Präsidentenmacher
Der Umbau des Staates wurde in den USA durch diese Gruppen lange vorbereitet. Spätestens seit den 1980ern sind evangelikale Christen eine tragende Säule der Republikanischen Partei – bekannte Namen sind etwa Ex-Vizepräsident Mike Pence oder auch die Ex-Gouverneurin Sarah Palin. Schon unter Ronald Reagan begann diese Allianz. Unter Trump aber hat sie einen Höhepunkt erreicht. „Sie machten Trump 2016 und 2024 zum Präsidenten, weil sie vor allem in der Wählerrekrutierung sehr stark aktiv waren. Jetzt erfüllt Trump ihnen ihre politisch-gesellschaftlichen Forderungen“, erklärt Frank Hinkelmann, Kirchen- und Missionshistoriker, Aufsichtsratsvorsitzender der Europäischen Evangelischen Allianz.
Die Agenda der US-Evangelikalen ist erzkonservative Moralpolitik. Sie wünschen – und die Trump’sche Regierung spielt (fast) alle ihre Stücke: Konservative Richter wurden am Supreme Court installiert, das Abtreibungsrecht wurde enorm beschnitten. Einzig in puncto US-Einsatz in ausländischen Konfliktregionen ist Trump nicht linientreu. Ein großer Teil der US-Evangelikalen will keine US-„Einmischung“ in fremde Kriege.
Erzkonservative Evangelikale betreiben Thinktanks, Medienkanäle und Mega-Kirchen. Ihre Themen: „religious freedom“ als Code für Einschränkungen von LGBTQ-Rechten, Kampf gegen Abtreibung und ein patriarchales Familienbild.
Religiös gesehen, ist Evangelikalismus eine christliche Bewegung, in dessen Glaubenszentrum das Evangelium und die wörtliche Auslegung der Bibel als das inspirierte Wort Gottes steht. Zentral ist auch die Missionierung. In den USA sind rund ein Viertel der Bevölkerung evangelikale Christen.
Weltweit gibt es 400 bis 600 Millionen Evangelikale, Tendenz steigend. Evangelikale und freikirchliche christliche Gruppen schaffen es besser Mitglieder zu halten als die Volkskirchen.
Man dürfe aber nicht alle Evangelikalen über einen Kamm scheren. „Der Evangelikalismus umfasst ein breites Spektrum. Nicht alle sind Fundamentalisten oder Trump-Fans. Es gibt durchaus liberale Christen und Grün-Wähler unter ihnen“, erklärt Martin Fritz, Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, dem KURIER.
Politische Identität
Zurück in die USA, wo die Evangelikalen die Machtbasis der regierenden Republikaner bilden. Hier ist Evangelikalismus kein religiöser, sondern ein politischer Begriff geworden.
Es steht für „radikalen, anti-demokratischen Konservativismus“, sagt der Amerikanist Johannes Völz in einem Vortrag der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Anhänger sind überwiegend rechte Weiße, die das Motiv verfolgen, „man dürfte sich die Nation nicht wegnehmen lassen“. Und Völz ergänzt: „Die gegenwärtige Spielart des politisch aufgeladenen Evangelikalismus bezeichnen Religionsforscher als weißen christlichen Nationalismus.“
Umfragen aus den USA zeigen, dass sich auch Katholiken, Orthodoxe, Juden und Muslime als evangelikal bezeichnen, und zwar als Ausdruck einer politischen Identität, nicht eines religiösen Bekenntnisses.
Im politisierten Kulturkampf werde dadurch in Fragen der LGBTQ-Rechte, Frauenrechte und bei der Abtreibung klare Position bezogen, erklärt der Amerikanist Völz.
Diese Positionen teilen sich Evangelikale auch mit weiten Teilen der konservativen – und ihnen religiös sonst nicht nahestehenden – Katholiken, wie etwa US-Außenminister Marco Rubio, US-Vizepräsident J. D. Vance, US-Verteidigungsminister Pete Hegseth und der Mehrheit des Supreme Courts. Sie wurden bewusst ausgewählt, erklärt der Innsbrucker Theologe Wolfgang Palaver dem KURIER.
Strippenzieher Thiel
„Bringt man Leute mit einem bestimmten religiösen Bekenntnis in bestimmte Positionen, hat man schon sehr viel erreicht“, sagt Palaver. Und hier kommt der evangelikale libertäre US-Milliardär Peter Thiel in Spiel, den Palaver seit seiner Lehrzeit in Stanford in den 1990er-Jahren kennt. Thiel, für den auch Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz arbeitete, gilt als Erfinder von J. D. Vance als Vizepräsident und hat in dessen Senatswahl Berichten zufolge rund 25 Millionen Dollar investiert. Thiel ist der wohl reichste und bekannteste evangelikale Strippenzieher. Derzeit verbindet man Thiel vor allem mit seinen Warnungen vor vermeintlichen apokalyptischen Bedrohungen durch den „Antichristen“.
Aber: Was will Thiel? „Thiel will als Libertärer einen kleinen Staat, aber große Freiheit für kapitalistische und naturwissenschaftlich-technische Entwicklung“, sagt Thiel-Kenner Palaver. Da hilft ihm das konservative Christentum, weil auch diese Leute wenig staatliche Regulierung wollen. „Wenn Thiel auf die Gefahr des Antichristen pocht, worunter er einen regulierenden Weltstaat versteht, dann bekämpft er auf religiöser Seite genau das, was ihm ökonomisch-politisch entgegenkommt“, erklärt Palaver. „Trump hat den Multilateralismus auf internationaler Ebene ziemlich zerstört. Wenn das mein Ziel ist, dann ist die Unterstützung für Trump und Vance plausibel und das Ziel fast geschafft.“
Die Zeit für die staatliche Modellierung nach christlich-konservativen Wünschen könnte 2028 ablaufen. Denn während sie derzeit noch die politischen Hebel bedienen, erodiert das traditionell fromme Amerika. Die Religionslosen sind die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe in den USA. Es bleibt offen, ob die konservativen Christen auch die nächste Präsidentschaft dirigieren werden.
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