Experten warnen vor EU-Zukunft ohne Reformen: Dringender Handlungsbedarf

Plenary session of the European Parliament in Strasbourg
Die EU-Kommission präsentiert kommende Woche das Erweiterungspaket und Reformvorschläge. Es werden neue Mehrheitsentscheidungen und weniger Vetorechte für neue Mitglieder diskutiert.

Zusammenfassung

  • EU-Experten fordern dringend mehr politischen Willen für Reformen, um die Handlungsfähigkeit der Union und künftige Erweiterungen zu sichern.
  • Diskutiert werden neue Mehrheitsentscheidungen und weniger Vetorechte, insbesondere für neue Mitglieder, um Entscheidungsprozesse zu beschleunigen.
  • Nicht alle Kandidatenländer sind gleich weit, während finanzielle Fragen und Skepsis in der Bevölkerung die Erweiterung zusätzlich erschweren.

Die EU muss sich dringend reformieren, nicht nur um fit für weitere Erweiterungen, sondern für ihre eigene Zukunft zu werden: Darin sind sich zahlreiche Experten einig. Kommende Woche wird die EU-Kommission ihr jährliches Erweiterungspaket plus Reformvorschläge für die Union vorlegen. Wichtiger als Pläne für institutionelle Veränderungen ist aber der politische Wille dazu vonseiten der EU-Staaten, an dem es jedoch noch mangelt, so von der APA in Brüssel befragte Experten.

Seit Jahren wird von Politik und Experten gefordert, eine weitere Erweiterungsrunde der EU mit institutionellen Reformen zu verknüpfen. Schon mit 27 Mitgliedsländern und der Pflicht zu einstimmigen Entscheidungen in wichtigen Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik kämpft die Union um ihre Handlungsfähigkeit, wie etwa die Blockaden Ungarns bei Beschlüssen zur Ukraine gezeigt haben. 

Gefordert wird daher etwa die Ausweitung der sogenannten qualifizierten Mehrheit auf mehr Bereiche. Beschlüsse werden dabei mit der Zustimmung von mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten getroffen, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Akhvlediani: Erweiterte EU sollte nicht noch langsamer sein

"Die EU ist mit derzeit 27 Mitgliedern bereits langsam. Eine erweiterte Union sollte nicht noch langsamer sein", fordert Tinatin Akhvlediani, Expertin für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik beim Brüsseler Centre of European Policy Studies (CEPS), im Gespräch mit der APA eine "Beschleunigung der Entscheidungsprozesse" und eine rasche Einführung der qualifizierten Mehrheit. "Technische Lösungen existieren und könnten umgesetzt werden, wenn der Wille dazu vorhanden ist", sagt Jean-Louis De Brouwer, EU-Direktor beim Brüsseler Egmont-Institut, zur APA.

Für ihn gibt es eine "kurze Antwort" auf die meisten Fragen betreffend die Reformen der EU: "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg." Gerade am politischen Willen und einer Vision mangele es aber. Eine "große Anzahl von Mitgliedstaaten zögert, die Prozesse effizienter zu gestalten", kritisierte auch Janis Emmanouilidis, stellvertretender Geschäftsführer und Studiendirektor beim Brüsseler European Policy Centre (EPC), bei einer Diskussionsrunde des Thinktanks.

Emmanouilidis: EU muss Betriebssystem ändern

"Es liegt in unserem geopolitischen Interesse, dass die EU erweitert wird. Wenn die EU nicht in der Lage ist, sich zu erweitern und sich zu reformieren, wird sie scheitern", warnt Emmanouilidis. Die EU müsse sich unabhängig von der Erweiterung reformieren, meint er: Das "Betriebssystem der EU" müsse geändert werden, um effizienter, stärker und souveräner zu werden. Für ihn haben die EU-Staaten nicht die richtige Einstellung für interne Reformen und Erweiterung, in beiden Bereichen sei "mehr Ehrgeiz erforderlich".

Um trotzdem rascher voranzukommen ist eine Idee, dass neue Mitglieder am Anfang auf ihr Vetorecht verzichten, bis Reformen wie die Einführung der qualifizierten Mehrheit in den meisten Politikbereichen umgesetzt sind. "Bevor man sich auf eine aussichtslose Debatte über EU-Reformen einlässt, könnte man diese Reformen durch die Hintertür über die Beitrittsverträge aufnehmen", meint dazu De Brouwer. Etwa in Verbindung mit dem Vetorecht für neue Mitgliedstaaten könnte dies in den neuen Beitrittsverträgen geregelt werden. Dies wäre ein "kluger Schachzug", das Europäische Parlament um die Ratifizierung der Verträge zu bitten, aber "es gibt Bremsen zum Schutz der EU, um die öffentliche Meinung zu gewinnen".

Denn viele EU-Bürgerinnen und Bürger sind von der Aufnahme neuer EU-Mitglieder nicht überzeugt, und die österreichischen zählen zu den großen Skeptikern, obwohl Österreichs Regierung einer der stärksten Fürsprecher einer raschen EU-Aufnahme der Westbalkan-Länder ist. Laut der letzten Eurobarometer-Umfrage ist mit insgesamt 56 Prozent eine knappt Mehrheit der EU-Bürger für weitere EU-Erweiterungen, aber nur 45 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher. Alle EU-Staaten müssen einer Erweiterung zustimmen.

Nicht alle Kandidatenländer gleich reif für Beitritt

Nicht alle Kandidatenländer sind gleich weit vorangeschritten: EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos hat zuletzt Montenegro und Albanien als die am weitesten fortgeschrittenen Kandidaten der sechs Westbalkanländer bezeichnet, beide könnten ihrer Ansicht noch vor 2030 der EU beitreten. Montenegro selbst will bereits 2028 das 28. EU-Mitgliedsland werden: Sowohl Vertreter der montenegrinischen Regierung als auch Parlamentarier der Opposition sind sich in dem Ziel "28 by 28" einig.

Tinatin Akhvlediani meint zur Frage der APA, ob einzelne Westbalkanländer schon vor den anderen aufgenommen werden sollten, "natürlich braucht man Erfolgsgeschichten". Wichtig ist für sie, dass die Erweiterung "leistungsorientiert" bleibe: Die Länder sollten bereit sein, beizutreten. Sie sieht viele Chancen für die beiden Frontrunner, in den kommenden fünf Jahren beizutreten. Eine weitere auch von österreichischen Regierungsvertretern unterstützte Idee zur Beschleunigung der Erweiterung ist, dass nicht jedes Kapitel der Beitrittsverhandlungen wie bisher von allen EU-Ländern genehmigt werden müsste, sondern nur die wichtigen, grundlegenden Entscheidungen wie die Aufnahme und der Abschluss der Verhandlungen.

Die Einstimmigkeit bei allen Entscheidungen im Erweiterungsprozess sei zwar Praxis, werde aber nicht durch die EU-Verträge vorgeschrieben, erklärt die Ökonomin dazu. Für sie ist sie "rechtlich nicht erforderlich und sollte abgeschafft werden". Derzeit sieht sie allerdings wenig Chancen für die Idee, die von Ratspräsident Antonio Costa beim Kopenhagener Gipfel auf den Tisch gebracht wurde, aber nicht die Zustimmung aller EU-Staaten erhalten hatte.

Auch das Geld spielt eine Rolle

Wie immer spielt aber auch bei Erweiterung und EU-Reformen das Geld eine große Rolle. Sowohl Akhvlediani als auch De Brouwer sehen auch in Bezug auf diese beiden Bereiche große Fragen im Zusammenhang mit dem gerade in Verhandlung stehenden neuen mehrjährigen EU-Budget. So werde die Ukraine "viel Geld brauchen", und die EU müsse hier Lösungen finden, so die Georgierin. Sie warnt aber davor, hier nur eine "Gefahr" zu sehen, das Land biete auch viele Möglichkeiten.

Für den Professor für Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und EU-Politik an der Brüsseler Saint Louis-Universität zeigen die Widerstände der Mitgliedsländer - auch Österreich ist nicht zufrieden - mit dem Vorschlag der Kommission, dass es nicht so sehr Vertragsänderungen seien, die benötigt würden, sondern Änderungen in der Steuerung und Führung der EU. Die EU-Länder würden befürchten, mit dem Vorschlag Macht an Brüssel zu verlieren. Diese wachsende Unzufriedenheit bestätige den Ansatz, dass Reformen an sich notwendig seien, nicht nur bei der Mehrheitsfindung, betont der Belgier.

(Von Franziska Annerl/APA)

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