EU-Klimaziel 2040 liegt vor: Streit um Minus 90 Prozent wird zur Zerreißprobe

EU Commission to propose 2040 climate target
Die EU-Kommission hat ein neues, verbindliches Klimaziel für das Jahr 2040 vorgeschlagen. Das Ziel ist unbedingt nötig - trotzdem kaum zu schaffen.

Am Mittwoch war es dann endlich soweit: Der niederländische EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra (EVP) und Kommissionsvizepräsidentin Teresa Ribera (Sozialdemokratin) stellte sich vor die Presse und verkündete wie allgemein erwartet das neue Klimaziel der EU bis 2040: Mindestens minus 90 Prozent Treibhausgase (im Vergleich zu den Emissionen von 1990). 

Obwohl Österreich sich selbst die Klimaneutralität bis 2040 zum Ziel gesetzt hat und damit über das EU-Ziel hinausgeht, bleibt der Weg dorthin eine gewaltige Herausforderung. Österreich ist zwar im Strombereich jetzt schon zu fast zu neunzig Prozent klimaneutral, dennoch ist das Klimaziel enorm weit weg. Der Verkehr ist gerade einmal zu fünf Prozent auf E-Autos umgestellt, im Wärmebereich stehen dem Ziel fast 1,5 Millionen fossile Heizungen im Weg, und ohne Erdgas würden heute große Teile der Industrie und Wirtschaftsbetriebe stillstehen. Unterm Strich ruht Österreichs Volkswirtschaft noch immer zu zwei Dritteln auf fossilen Energieträgern.

Und diese zwei Drittel sollen bis 2040 weitgehend verschwinden. Kaum mehr Benzin und Diesel, Heizöl, kaum mehr Erdgas in den nächsten 15 Jahren?

Die Ankündigung zum neuen EU-Klimaziel wurde immer wieder verschoben und wohl nicht zufällig in den Hochsommer verlegt. Über Europa brütet eine Hitzewelle, mit Temperaturen jenseits der 40 °C.

Der Schritt war andererseits genauso erwartet worden. Denn damit schließt die EU-Kommission nur die Lücke zwischen den bestehenden Zielen für 2030 und dem Langzeitziel der Klimaneutralität bis 2050. Das 2030er-Klimaziel ist längst beschlossen: Die EU-Staaten wollen damit die Treibhausgase insgesamt um 55 Prozent senken. Dabei gelten für die 27 Mitgliedstaaten individuelle Ziele (Lastenaufteilung bzw. „burden sharing“). Für Österreich gilt bis 2030 ein Minus von 48 Prozent.

Dieses Minus-90-Prozent-Ziel ist alles andere als fix: Längst haben einige Staats- und Regierungschefs lautstark ihre Bedenken angemeldet, allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron sowie der polnische Regierungschef Donald Tusk. Auch die österreichische Regierung gehört eher zu den Bremsern auf EU-Ebene.

Die Gründe sind in jedem Land spezifisch: Polens Energiemix ist historisch stark von Stein- und Braunkohle geprägt. Obwohl ein Kohleausstieg geplant ist, deckt Kohle immer noch einen Großteil der Stromerzeugung. Kohle ist aber auch ein wesentlicher Arbeitgeber, Tusk befürchtet also tiefgreifende soziale Folgen wie den Verlust Tausender Arbeitsplätze und den Strukturwandel ganzer Regionen.

Frankreichs Problem ist komplexer: Trotz des enorm hohen Anteils an CO₂-armem Atomstrom (70 %) im Energiemix fürchtet Macron, dass zu strenge und zu schnelle Klimavorgaben die europäische Industrie im globalen Wettbewerb benachteiligen.

Genau das befürchten auch viele andere EU-Staaten: Thema ist eine „Deindustrialisierung durch die Hintertür“, wenn Unternehmen ihre Produktion an Standorte mit lockereren Umweltauflagen verlagern („carbon leakage“). Die Kommission betonte am Mittwoch, man wolle der Wirtschaft als „berechenbarer und vertrauenswürdiger Partner“ begegnen und den Staaten mehr „Freiraum bei der Umsetzung“ gewähren.

Das neue Ziel fußt aber vor allem auf internationalen Verpflichtungen der EU im Rahmen des Pariser Klimaabkommens. Zudem muss die EU ihre aktualisierten Klimapläne für 2035 bis September bei den Vereinten Nationen einreichen, rechtzeitig vor der Weltklimakonferenz in Brasilien im November.

Kurswechsel beim Klimaschutz

Um die Kritik zu besänftigen, hat die EU-Kommission einen signifikanten Kurswechsel eingeleitet. Erstmals soll es möglich sein, die Klimaziele nicht ausschließlich durch Einsparungen innerhalb der EU zu erreichen. Der Vorschlag sieht vor, dass ab 2036 bis zu drei Prozentpunkte des Ziels durch einen internationalen Zertifikatehandel ausgeglichen werden können. Damit könnten in der EU entstandene Emissionen durch Investitionen in Klimaschutzprojekte außerhalb der Union – etwa die Aufforstung von Wäldern in Brasilien – kompensiert werden. Dieser Handel soll sich auf Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens beziehen und zusätzlich zum bestehenden EU-Emissionshandel (ETS) eingeführt werden.

Zudem wurde ein weiteres Flexibilitätsinstrument angekündigt: Künftig sollen auch heimische Zertifikate für die nachweisliche und dauerhafte Entnahme von CO₂ aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR) in den EU-Emissionshandel einbezogen werden.

Moderner Ablasshandel?

Kritiker warnen vor einem Dammbruch und bezeichnen den Mechanismus als modernen Ablasshandel. Sie befürchten, dass dieser Kurswechsel die eigenen Anstrengungen untergräbt, indem Klimaschutzmaßnahmen faktisch ausgelagert werden und ihre tatsächliche Wirkung nur schwer kontrollierbar ist. Erfahrungen mit einem ähnlichen System unter dem Kyoto-Protokoll, dem Vorläufer des Pariser Abkommens, waren letztlich gescheitert.

Nun beginnt innerhalb der EU-Staaten also ein heftiger Streit um Klimaziele und die neuen „Flexibilitäten“. Der Vorschlag der EU-Kommission markiert nur den Beginn des Gesetzgebungsprozesses. Als Nächstes werden die EU-Staaten im Rat sowie das Europaparlament den Entwurf beraten und jeweils eine eigene Position dazu erarbeiten. Anschließend treten sie in Verhandlungen, um einen finalen Kompromiss zu finden. Ein Ergebnis der nun folgenden, sicher heftig geführten Debatte ist derzeit nicht absehbar.

Was aber auch klar sein sollte: Laut Experten nehmen extreme Wetterereignisse wie Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen an Häufigkeit und Intensität zu. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Europa als die sich am schnellsten erwärmende Region der Welt, auf die ein Drittel aller weltweiten Hitzetodesfälle entfällt. Der Klimawandel stellt somit nicht nur eine ökologische, sondern auch eine massive gesundheitliche und wirtschaftliche Bedrohung dar.

Andererseits sind die EU-Staaten nur noch für knapp sieben Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich.

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