Aber wie? Auf 160 Seiten, gut gefüllt mit der Arbeit von Dutzenden Experten, hat der ehemalige finnische Präsident Sauli Niinistö im Auftrag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Lage analysiert. Die lässt sich eigentlich in einem Satz zusammenfassen: Europa muss sich dringend um seine Sicherheit kümmern, angesichts einer Vielzahl akuter Bedrohungen und es muss, nein, es kann das nur gemeinsam tun.
Die Entscheidungsträger der EU sind sich inzwischen darüber im Klaren, dass man ohne eine komplett neu und vor allem gemeinsam aufgestellte Verteidigung von den Bedrohungen der Gegenwart und der voraussichtlich sehr nahen Zukunft überrollt wird. Der gerade abgetretene EU-Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell hat das seinen Nachfolgern zuletzt noch einmal eingeschärft: „Wie schaffen wir es, unsere gemeinsamen Ausgaben für Verteidigung zu erhöhen – und wie garantieren wird, dass dieses Geld auch in unser wirtschaftliches Ökosystem fließt?“
Die Zahlen, die Borrell nennt und die in Brüssel derzeit in allen Hintergrundgesprächen zum Thema herumschwirren, sind tatsächlich schwindelerregend. Rund 500 Milliarden Euro muss Europa in den kommenden Jahren allein in seine militärische Sicherheit investieren. Und an diese Summe schließen sich gleich zwei Fragen an, deren Antworten noch dringend gesucht werden. Erstens, wie sollen diese 500 Milliarden in Zeiten klammer Staatsbudgets und eines mehrjährigen EU-Budgets, um das schon gestritten wird, bevor die offizielle Diskussion – sie ist für das nächste Jahr angesetzt – auch nur begonnen hat? Zweitens: Wie kann Europas Rüstungsindustrie all das geforderte Material liefern? In enger, grenzüberschreitender Kooperation und, anders als bisher, als Rüstung allein Sache der Nationalstaaten war, mit einem gemeinsamen Auftraggeber: Der EU oder der NATO?
Das Geld für diese Aufrüstung, auch da sind sich alle politischen Entscheidungsträger einig, darf nicht wie bisher fast ausschließlich in die Kassen von Rüstungsunternehmen in Übersee fließen. Genauer gesagt, sind es 80 Prozent der zuletzt ohnehin in ganz Europa stark gestiegenen Militärausgaben.
Vor wenigen Tagen haben sich in Brüssel zwei der wichtigsten Köpfe der europäischen Rüstungsindustrie zu Wort gemeldet. „Wir müssen in Europa einkaufen, wir müssen in Europa produzieren“, erklärten Airbus-Chef Guillaume Faury und Saab-Chef Micael Johansson gemeinsam vor der Presse: „Und wir können vor allem nicht mehr so von den USA abhängig sein wie bisher.“
Doch um den Bedarf an Militärmaterial, gerade in Zeiten, wo der Krieg in der Ukraine davon Unmengen verschlingt, auf Dauer zu decken, sind neue Werke und Maschinen notwendig. Dafür aber verlangt die Industrie langfristige Aufträge. Abseits der Öffentlichkeit sind viele Produzenten auch besorgt, dass ein gemeinsamer Auftraggeber, also etwa die EU, die Geschäfte zwar einfacher, aber deutlich weniger lukrativ machen könnte. Ein Europa, das für seine Verteidigung Großaufträge zu vergeben hat, kann auch preisbewusster auftreten als einzelne nationale Streitkräfte, die viel kleinere Stückzahlen bestellen.
Während man sich über Jahrzehnte nicht einmal unter den NATO-Ländern über gemeinsame Ausrüstung und Bewaffnung einigen konnte, hat die EU-Kommission jetzt begonnen, Rüstungsprojekte tatsächlich grenzüberschreitend in Auftrag zu geben. So bauen etwa Firmen in neun EU-Staaten beim Projekt „Mistral“ an Luftabwehr-Raketen, in vier EU-Staaten wird gemeinsam ein neuer gepanzerter Truppentransporter gebaut. Der Umfang dieser Projekte erscheint natürlich zwergenhaft gegenüber den Dimensionen, die eine wirklich gemeinsame europäische Verteidigung haben müsste.
Doch dafür muss jetzt einmal die Finanzierung geklärt werden. Gemeinsame europäische Schulden für Rüstungsausgaben: Diese Idee wird von Ländern wie Frankreich, die traditionell großzügiger mit ihren Budgets umgehen, konsequent beworben – und ebenso konsequent von Europas Sparefrohs wie Deutschland oder Österreich zurückgewiesen. Dass dieses Geld, flösse es auch tatsächlich in europäische Unternehmen, auch Innovation und hochqualitative Arbeitsplätze bringen würde, darauf verweisen die Industriekapitäne gerne – meistens aber mit Nachsätzen wie diesen: „Wenn wir weiter so wenig ausgeben, wird nicht viel in Europa passieren.“
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