Eskalationsspirale dreht sich: "Russen werden weitermachen"

Eskalationsspirale dreht sich: "Russen werden weitermachen"
Das Ziel der russischen Angriffe sei nun nicht mehr vorrangig das ukrainische Militär, sondern die Bevölkerung selbst.

Die Eskalationsspirale der Gewalt dreht sich in der Ukraine immer weiter. "Es wird von Woche zu Woche und von Monat zu Monat immer verheerender. Ein Ende ist derzeit nicht in Sicht", sagt Ukraine-Experte und Garde-Kommandant, Oberst Markus Reisner, im Gespräch mit der APA zu den jüngsten Entwicklungen. Die Russen haben seit dem 24. Februar bereits über 4.200 ballistische Raketen, Marschflugkörper auf die Ukraine abgefeuert, alleine am gestrigen Montag waren es knapp 100.

Der massive Beschuss auf Ziele in über dreizehn Städten am Montag war die Antwort des Kremls auf die Explosion auf der für Russland strategisch wichtigen Kertsch-Brücke zur annektierten Halbinsel Krim. Russland habe im Vorfeld immer wieder behauptet, dass die Brücke durch die eigenen Streitkräfte so gut geschützt sei, dass sie nicht angegriffen werden könne und einen Angriffsversuch als rote Linie bezeichnet. Die teilweise Zerstörung der Brücke bedeute, "dass der Konflikt weiter eskaliert und somit unausweichlich in die Länge gezogen wird". Das Ziel der russischen Angriffe sei nun nicht mehr vorrangig das ukrainische Militär, sondern die Bevölkerung selbst. "Ein verheerender Strategiewechsel."

Eskalationsspirale dreht sich: "Russen werden weitermachen"

Krieg wird noch länger dauern

Dass der Krieg noch länger dauern wird, zeigt sich auch an der Mobilmachung russischer Reservisten, die deutlich größer sei als der Kreml offiziell behauptet habe, sagt Reisner. Es seien nicht 300.000, sondern mehrere Hunderttausend, die rekrutiert werden. Und es werde hauptsächlich in den entlegenen Regionen Russlands rekrutiert, dort würden praktisch alle Männer im wehrfähigen Alter zur Musterung geholt, um zu sehen, "wer überhaupt geeignet ist". Potenziell hätte Russland 30 Millionen Reservisten. Sollten diese Soldaten an die Front kommen, so müssten sie erst von den ukrainischen Streitkräften "niedergekämpft werden".

Reisner sieht das auf lange Sicht als großes Problem für die Ukrainer, weil sie - die ins Ausland geflüchteten Frauen und Kindern abgezogen - insgesamt 35 Millionen Menschen zählen. Das ukrainische Militär befinde sich bereits in der vierten Mobilisierungswelle, "das bedeutet, dass auch jeder ab 45 Jahren plus eingezogen wird". Selbst wenn der Westen immer mehr Waffen ins Land schickt, "irgendwann wird es keine wehrfähigen Ukrainer mehr geben". Und genau darauf spekuliere Russland. Und gerade darum sucht die Ukraine jetzt die Entscheidung.

Keinerlei Bereitschaft für Verhandlungen

Solange es jedoch in Russland keine Palastrevolte oder einen neuen "Oktober 1917" gibt und die Bevölkerung geschlossen hinter dem Regime steht, "werden die Russen weiter machen". Es gebe auf beiden Seiten keinerlei Bereitschaft für Verhandlungen. Russland hat die Entscheidung aber in der Hand, denn: "Wenn Russland den Krieg beendet, ist dieser vorbei. Wenn die Ukrainer ihn beendet, gibt es die Ukraine nicht mehr."

Nach den erfolgreichen Offensiven der ukrainischen Streitkräfte von August bis Anfang Oktober hat Russland seine militärische Führung ausgetauscht. Die Kritik an den eigenen Streitkräften wurde immer stärker. Am Beginn des Krieges gab es fünf relevante russische Kräftegruppierungen und diese wurden zwischendurch auf drei reduziert. Nun übernimmt ein Mann das Kommando über alle Kräfte. Sergej Surowikin soll ein Hardliner sein und wegen seines brutalen Vorgehens in Syrien "der Schlächter" genannt werden.

Die Beschädigung der strategisch wichtigen Kertsch-Brücke habe aber nicht nur einen militärischen Aspekt, weil sie als Lebensader gilt, die die Krim mit Nachschub versorgt, sondern auch einen psychologischen, erläutert Reisner. Für die Ukraine sei die Brücke ein Symbol der russischen Okkupation. Eine Zerstörung wurde immer wieder angekündigt. Trotz der spektakulären Explosion sei für Russland von Vorteil, dass gerade der Eisenbahn-Teil der Brücke funktionsfähig geblieben sei. Die teilweise Sprengung des Straßen-Teils werde die Versorgung der Krim aber vorerst nachhaltig erschweren. Nördlich der Krim befinden sich zwischen 50.000 und 60.000 kampfkräftige russische Soldaten. Sie vor dem Winter von der Versorgung abzuschneiden, sei das Ziel der Ukrainer.

Die Ukrainer versuchen zusätzlich im Süden der Ukraine noch mehr militärischen Druck auszuüben und auch bei Saporischschja in Richtung Asowsches Meer durchzubrechen. Damit würden sie die Krim auch am Landweg von Russland abschneiden. Die Russen wiederum haben mit den gestrigen Angriffen begonnen, gezielt ukrainische kritische Infrastruktur zu zerstören. Dies habe den Zweck, die Versorgung des ukrainischen Volkes über den Winter massiv zu erschweren. "Die Russen hoffen, dass sie durch genügend Druck die im Winter leidenden Bevölkerung dazu bringen können, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij stürzen. Sie spekulieren darauf, dass das Leid im Winter so unerträglich wird, dass es zu einem Umbruch und einem Regimewechsel oder zumindest zu Verhandlungen kommt." Zusätzlich versucht man einen Keil in die europäischen Bevölkerungen zu treiben. Die Botschaft: "Es zahlt sich nicht aus, die Ukraine zu schützen. Die Sanktionen schaden euch Europäern mehr als uns Russen", erklärt Reisner.

Das Wichtigste für die Ukraine und Selenskij sei es daher, "den ukrainischen Verteidigungswillen aufrechtzuerhalten und die Menschen durch den Winter zu bringen". Demnächst beginne die Schlammperiode in der Ukraine, danach komme der Frost. Im Winter werde weniger gekämpft werden, "aber Marschflugkörper und ballistische Raketen können auch im Winter fliegen". "Die Russen haben schwere Fehler gemacht und massive Rückschläge erlitten, aber sie sind noch nicht am Ende", so Reisner. "Nur wenn die Ukraine in der Lage ist, nachhaltig ihren Luftraum zu verteidigen, kann sie die Tiefe des Landes schützen. Dazu wichtige weitreichende Luftabwehrsysteme sind noch kaum aus dem Westen geliefert worden."

Kommentare