Historische Wahlen in Bolivien: Wer führt das Land aus der schweren Wirtschafskrise?

Anhänger des ehemaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales protestieren für dessen Kandidatur.
Wenn Martín in Bolivien sein Auto tanken will, muss er mit stundenlanger Wartezeit rechnen. Kilometerlange Kolonnen vor den Zapfsäulen gehören längst zum Alltag. Auch auf den öffentlichen Verkehr kann sich der Unternehmer, der eigentlich anders heißt, nicht verlassen - der kommt regelmäßig zum Erliegen. Denn: Treibstoff ist in dem südamerikanischen Land knapp. Und nicht nur das. "Es gibt kein Mehl, kein Brot. Nicht mal Medikamente bekommen wir mehr", sagt er zum KURIER.
Kurz: Bolivien steckt bis zum Hals in einer Wirtschaftskrise. Die einst sprudelnden Erdgasvorräte sind weitgehend erschöpft, eine eigene Industrie existiert in dem Andenstaat kaum. Um die meisten Güter zu importieren, fehlt es an Devisen. Die Inflation ist in die Höhe geschossen. Jahrelang sind Milliarden in Subventionen – insbesondere für Treibstoff – geflossen, während Investitionen und Haushaltsreformen ausgeblieben sind. Heute steht das Land kurz vor dem Staatsbankrott.

Eine lange Schlange vor einer Bäckerei in La Paz.
Machtwechsel steht bevor
Viele setzen ihre Hoffnung nun in den 17. August. Dann wählt Bolivien ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten - und nach zwei Jahrzehnten steht dem Land, das zu den ärmsten Südamerikas zählt, ein Macht- und Paradigmenwechsel bevor. Die sozialistische Regierungspartei MAS ("Bewegung zum Sozialismus"), die bislang fest die Zügel in der Hand hatte, ist zerstritten und so geschwächt, dass sie kurz vor der Auflösung steht.
“Für junge Bolivianer ist das kaum fassbar. Sie haben ihr ganzes politisches Leben nur diese Regierungspartei gekannt - vor allem Evo Morales", sagt Christina Stolte, Büroleiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in La Paz. Morales, ehemaliger Gewerkschaftsführer der Kokabauern und erstes indigenes Staatsoberhaupt, regierte von 2006 bis 2019 mit stabilen Mehrheiten. “MAS hatte eine politische, wirtschaftliche und soziale Dominanz, an der man in Bolivien nicht vorbeikam.”
Diese Zeiten sind vorbei. Inzwischen laufen gegen Morales mehrere Haftbefehle – unter anderem wegen Pädophilie. Eine weitere Kandidatur ist ihm verfassungsmäßig verboten. Geschützt von seinen Anhängern hat er sich in seiner Heimat im Dschungel des Chapare verschanzt, in den der bolivianische Staat kaum vordringen kann.

Hat noch immer viele glühende Anhänger im Land: Ex-Präsident Evo Morales.
Historische Chance für Opposition
Für die Opposition ist das eine historische Chance. Laut Umfragen – die in Bolivien allerdings mit Vorsicht zu genießen sind – liegen zwei rechtsgerichtete Kandidaten deutlich vorn: der Unternehmer und frühere Planungsminister Samuel Doria Medina von der konservativ-wirtschaftsliberalen Frente de Unidad Nacional sowie Ex-Präsident Jorge "Tuto“ Quiroga von der rechts-konservativen Alianza Libre. Linke Kandidaten, vor allem jener der regierenden MAS, liegen deutlich abgeschlagen zurück.
Tuto und Doria Medina vertreten ähnliche Positionen: Sie wollen mit dem sozialistischen Wirtschaftssystem Boliviens brechen, durch eine Liberalisierung der Wirtschaft das Land aus der schweren Krise führen. Unrentable Staatsbetriebe sollen privatisiert, Treibstoffsubventionen zumindest reduziert werden. Zudem wollen beide sofort Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen. "Viele Möglichkeiten bleiben nicht für Bolivien. Die Zeit drängt, das Land steht kurz vor dem Zusammenbruch", so Stolte.

Oppositionskandidaten Jorge Quiroga (li.) und Samuel Doria Medina.
Radikale Positionen, wie etwa von Anarchokapitalist Javier Milei im benachbarten Argentinien - seien von ihnen nicht zu erwarten: "Die Bolivianer wollen nach Jahren der Polarisierung unter Morales keine Revolution - sondern Stabilität."
Risikofaktor Morales
Ob einer oder beide von ihnen nach dem Sonntag in die Stichwahl am 19. Oktober einziehen, ist noch unklar. So ist den Umfragen zufolge noch ein Drittel der Wähler unentschlossen. "Und die sind wirklich eine Blackbox. Sind es Anhänger, der Opposition, die sich noch nicht zwischen den beiden Kandidaten oder überhaupt nicht entschieden haben? Oder Gefolgsleute von Morales, die seinem Aufruf folgen, eine ungültige Stimme abzugeben?”
Denn der Ex-Präsident, der weiterhin viele Unterstützer in dem Zwölf-Millionen-Einwohner-Land hat, bleibt ein Risikofaktor. Bereits im Juni stachelte er seine Anhänger zu Protesten und Straßenblockaden an. Groß ist die Sorge, dass sie den fairen Ablauf der Wahl in Chapare stören.
Auch nach dem ersten Wahlgang könnte es unruhig werden. So trafen bereits im Jahr 2019, als sich Morales trotz Wahlbetrugsvorwürfen zum Sieger erklärte, MAS-Anhänger und Opposition auf den Straßen gewaltvoll aufeinander - und trieben das Land an den Rande eines Bürgerkriegs.
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