Araber und Juden, ganz ohne Hass
Gehen Sie ruhig vor", sagt die Palästinenserin mit dem vollen Einkaufswagen mit einer einladenden Armbewegung. "Danke, sehr nett", lächelt der junge Soldat mit nur zwei Semmeln in der Hand und dem Gewehr lässig über der Schulter. Vor den Kassen des Supermarktes "Rami Levy" in Gusch Etzion, mitten im besetzten Westjordanland, treffen sich Israelis und Palästinenser. Als Kunden. Mit ein und demselben Ziel: Möglichst preiswert und bequem einzukaufen. Schulter an Schulter. Jede Distanz scheint aufgehoben.
Parallele Welten, eng beieinander, aber ohne Brücken. Im "Gusch" leben 20.000 israelische Siedler unter 40.000 Palästinensern. Ruhig ist es hier an diesem Tag, an dem sich unten in der Küstenebene wieder Millionen Israelis vor den Raketen aus dem Gazastreifen in Bunker flüchten, Israels Kampfflugzeuge und Panzer rund um Gaza Raketenstellungen und Einrichtungen der feindlichen Hamas bombardieren.
Friedlich nebeneinander stehen auf dem Parkplatz auch die Autos. Wenn auch klar zu unterscheiden: Gelbe Nummernschilder die Israelis, weiße die Palästinenser. "Schmor merchak" fordert ein hebräischer Aufkleber auf dem VW Bora, in den die Palästinenserin ihre Waren lädt: "Abstand halten!" Auf dem Geländefahrzeug, in das der Soldat steigt, steht die Losung seiner Aufklärungseinheit: "Auf leisen Sohlen, mit Riesenschritten."
"Das ist mein Zuhause"
Direkt gegenüber liegt ein altes Steinhaus hinter Büschen versteckt. Omar und Nada mit ihren sechs Kindern sind hier zu Hause. Der 45-Jährige ernährt seine Familie mit Gelegenheitsjobs im nahen Bethlehem. Nach der Entführung wurde auch sein Haus durchsucht: "Das ging aber schnell, es hat ja nur drei Zimmer." Nada würde die Gäste gern auf einen Kaffee oder Tee einladen. "Leider geht es nicht, weil wir ja fasten."
Ende des Ramadan. In diesem Jahr, an einem Tag, fügte es der Mondkalender, dass gleichzeitig auch die Juden fasteten. Am 9. des Monats Av, an dem zwei Mal ihr Tempel zerstört wurde: 586 vor und 70 nach Christus.
"Es bietet sich doch geradezu an, das gleichzeitige Fasten mit einem gemeinsamen Mahl zu beenden", erklärt Eliaz Cohen, sein Wuschelkopf nickt. Seit 20 Jahren lebt der Sozialarbeiter, der in Israel als Lyriker bekannt ist, in Gusch Etzion. Vor fünf Jahren überraschte er mit der Gründung von "Jeruschalom", einer Friedensinitiative, die Siedler und Palästinenser zu Begegnungen einlädt. Vor allem jene, die an Gott glauben.
Idee findet Nachahmer
Eliaz Cohen weiß, dass es naiv klingt. Anders als die bekannten Friedensorganisationen bewegt er sich in kleinen Kreisen. Meist reichen Wohnzimmer aus, wenn Siedler und palästinensische Nachbarn sich treffen. "Es ist ein erstes Kennenlernen. Tief sitzende Scheu ist zu überwinden." Scheu auch vor denen, die die Begegnungen mit Misstrauen beobachten. Auf beiden Seiten. Die Zahl der Teilnehmer steigt langsam, aber stetig.
Myron Joschua, einer der Ersten, traf so zum ersten Mal seine Nachbarn aus Bet Ummar. "Jahrelang lebten wir aneinander vorbei. Sie hatten Angst vor mir, ich machte einen Bogen um ihr Dorf." Heute kann der Siedler sich einen Zwei-Staaten-Kompromiss vorstellen. "So oder so, wir bleiben Nachbarn."
Die Idee des gemeinsamen Fastenbrechens ging diesmal über Facebook raus. Das Echo überraschte. In New York gibt es in mehreren Synagogen und Moscheen gemeinsame Mahlzeiten. Menschen treffen sich in den USA, Australien, Frankreich ... "Sogar aus Kuwait haben wir Likes."
Im Gusch treffen sie sich auf freiem Feld. Gebetet wird getrennt. Auf einer Seite keine 100 Siedler, am Feldrand gegenüber eine Handvoll Palästinenser. Keine Massen, doch eine Ansammlung, die Vorüberfahrende anhalten lässt. Gebete, Lieder, Reden. Immer wieder Reden, auch von Suliman Hatib. Er ist im selben Alter wie Eliaz Cohen und mit denselben Wuschelhaaren. Er erzählt von zehn Jahren im israelischen Gefängnis. Jetzt hat er der Gewalt abgesagt. Er spricht vom "Dschihad für den Frieden."
Endlich geht es an die Reistafel mit Huhn. Sie ist so halal wie koscher. Nur so ist ein gemeinsames Mahl möglich. Und es geht. Anschließend trennen sich wieder die Wege. Wie nach dem Einkauf im Supermarkt. Ein Abend zwischen Feinden mit Gebet und gemeinsamen Mahl. Mitten im Krieg.
Die Journalistin Sulome Anderson ist libanesischer Abstammung und nennt ihren Freund "Habibi", ihr Freund Jeremy ist Jude und sagt "Neshama" zu ihr. Damit sind sie Teil zweier Kulturen, die sich fremd zu sein scheinen – und seit Jahrzehnten bekriegen.
Dass es so nicht sein muss, wollte das Paar aller Welt demonstrieren. Dafür schossen sie ein Foto und veröffentlichten es auf Twitter und Facebook. Es zeigt sie bei einem Kuss, vor ihrer Brust hält Sulome ein Papier mit der Aufschrift: "Juden und Araber lehnen es ab, Feinde zu sein" (siehe Bild).
Seit das Bild vor rund zwei Wochen online ging, haben zahlreiche Twitter-User es dem Paar nachgetan. Unter dem Hashtag #JewsAndArabsRefuseToBeEnemies zeigen sie, dass Krieg in Nahost nicht gleich eine persönliche Feindschaft bedeuten muss.
Kein Krieg in Israel ohne seine Debatte über die Moral. Über die Kampfmoral wie über die Lebensmoral, die es gleichzeitig zu wahren gilt. Für das eigene Leben, wie für das des Feindes.
Das zu vereinen, fällt diesmal schwerer, obwohl Israel schon schwerere Kriege geführt hat: "Wir kämpfen gegen eine faschistische Organisation", so Israels angesehenster Kolumnist Ari Shavit der Zeitung Haaretz, "sie machte das erste geräumte Palästinensergebiet zu einer Hochburg des Totalitarismus."
Gidon Levy, der auch in Haaretz schreibt, will sich von der unmoralischen Kriegsführung der Hamas nicht beeinflussen lassen: "Die Zahl der getöteten Kinder müsste jeden Israeli erschüttern", kritisiert er, "stattdessen wird sie bejubelt."
Der Vernichtungswille der Hamas, die den Tod aller Juden zu ihrem Programm machte, führt in Israel zu immer lauter werdenden Rufen "Tod den Arabern." Im Kampf gegen die rassistische Hamas äußert sich auch der Rassismus in Israel offen.
Auf der Linken bleibt der Widerstand gegen die Ultra-Rechten im Schatten der Kämpfe schwach. Sieht auch sie sich doch in einem existenziellen Kampf : "Es geht um jenes Wunder einer jüdischen Heimstätte, das in Gefahr bleibt", so Schavit.
Avirama Golan, ebenfalls linksliberale Autorin , erinnert daran, dass der Kampf um Frieden und Humanismus nicht die Liebe zum eigenen Volk ausschließe. Es gelte, vor der radikalen Rechte keine Angst zu haben. "Doch auch wenn Netanyahu nichts ausließ, jede Chance auf Frieden zu behindern, gelang es auch besseren und weiseren Politikern nicht, unsere Nachbarn von unserem Lebensrecht zu überzeugen."
Auch innerhalb der arabischen Bevölkerung Israels wächst dann die Verzweiflung. In Gaza sehen sie oft die eigene Familie gefährdet. Und gerade, wer sich um die Integration in die israelische Gesellschaft ein Leben lang bemühte, sieht sich plötzlich wieder draußen. Suher Bahalul, der als Sportreporter zur Legende wurde, äußerte seinen Frust deutlich: "Ich habe es satt, in diesem Staat Araber zu sein."
Man muss nicht im Nahen Osten leben, um zwischen den Fronten des Gaza-Konflikts zu stehen. Die in Wien lebende Filmemacherin Ruth Beckermann und der Wiener Autor Doron Rabinovici sind Gegner von Israels Besatzungspolitik. Doch wenn die Hamas die Grenze untertunnelt und in Israel täglich Sirenen heulen, habe Israel ihrer Meinung nach keine andere Wahl, als zu reagieren.
"Rein operativ, hat Israel eine hundertprozentige Legitimation zu einer Militäroperation‘‘, sagt Rabinovici, denn die Tunnel und der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen seien eine Bedrohung für die israelische Zivilbevölkerung.
"Ich stelle mir vor, dass ich in meinem Garten sitze, plötzlich Terroristen aus einem Tunnel kommen und versuchen, mich und meine Familie zu töten‘‘ – ein für Beckermann erschreckendes Szenario .
Bevor es zu Frieden kommen könne, wäre ein radikales Umdenken auf beiden Seiten notwendig, meint Beckermann. Es sei problematisch, dass die Extremisten so stark seien. Rabinovici analysiert: "Während die eine Seite (Israel, Anm.) sich, nicht unbegründet, vor Vernichtung fürchtet, hat die andere Seite, nicht unbegründet, Angst vor dem, was sie Landraub nennen. Beide Seiten bemühen sich, die Angst der anderen zu vergrößern.‘‘
Höchst besorgt ist Beckermann über die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen bei Anti-Israel-Demos in Europa. "Da ist es egal, ob das Türken, Tunesier, Palästinenser oder Deutsche sind – es ist unerträglich.‘‘ Rabinovici dazu: "Dem Antisemiten ist meine Meinung egal. Wenn er mich als Jude angreift, dann werde ich ihm auch als Jude entgegentreten. Dann werde ich ihm nicht erklären, dass ich gegen die Besatzungspolitik bin, sondern ihn als Antisemiten beschimpfen.‘‘
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