Beigeisterung: Standing Ovations für Angela Merkel in Wien

Beigeisterung: Standing Ovations für Angela Merkel in Wien
Die deutsche Altkanzlerin hielt am Montagabend eine Lesung ab. Davor gab es einen Termin bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen.

Die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Montagabend in Wien davor gewarnt, das Schicksal der Ukraine über deren Kopf hinweg entscheiden zu wollen. "Was überhaupt nicht sein kann, ist, dass es über den Kopf der Ukraine passiert." Merkel wurde bei der Lesung aus ihren Memoiren im Konzerthaus vom Wiener Publikum mit Standing Ovations bedacht.

Sie wünsche sich, dass die Europäer in der NATO mit US-Präsident Donald Trump einen Weg finden würden, damit Russland den Krieg nicht gewinne und die Ukraine als souveräner Staat erhalten bleibe, betonte Merkel. Zugleich schilderte sie ihre Begegnungen mit Trump während dessen erster Amtszeit als desillusionierend. "Er betrachtet alles aus der Perspektive eines Immobilienunternehmers", für den der Erfolg des einen der Misserfolg des anderen wäre. "Deutschland schien er besonders zu misstrauen."

Warum lehnte Merkel Bemühungen für einen ukrainischen NATO-Beitritt ab?

Merkel rechtfertigte sich außerdem für ihre Entscheidung im Jahr 2008, der Ukraine und Georgien bei einem Gipfel in Bukarest den NATO-Aktionsplan für eine Mitgliedschaft in dem Bündnis verwehrt zu haben. Sie stehe zu ihrer Entscheidung, "das ist auch heute noch so", betonte Merkel. Es sei ein "Wunschdenken", dass der russische Präsident Wladimir Putin bis zur NATO-Mitgliedschaft der beiden Länder einfach abgewartet hätte. Beide Länder hätten zudem besondere Umstände aufgewiesen: Die Ukraine habe auf der Krim die russische Schwarzmeerflotte stationiert und Georgien habe separatistische Teilrepubliken.

Corona-Pandemie veränderte Sicherheit und Außenpolitik

Merkel schilderte dann ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Diese habe "sicher mit als Sargnagel für das Minsker Abkommen gewirkt", und aufgrund fehlender direkter Kontakte die Sicherheitslage und die Außenpolitik verändert. So sei 2021 beim G-20-Gipfel in Rom kein Gespräch mit Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping zustande gekommen, weil beide nur per Video zugeschaltet waren. "Gesprächsfäden rissen am Rande der Pandemie."

Nur kurz ging Merkel auf das Ergebnis der deutschen Bundestagswahl ein, die ihre CDU vor AfD und SPD gewann. Sie freue sich, dass die CDU/CSU stärkste Kraft geworden sei, so Merkel. Sie habe den Kanzlerkandidaten der Union Friedrich Merz "eine glückliche Hand gewünscht bei der Regierungsbildung", bereits am Wahlabend, versicherte Merkel. Merz war lange Parteifreund und Gegenspieler von Merkel. Sie wünsche auch, dass in Österreich die Regierungsbildung vorankomme, so Merkel weiter. Als Deutsche wolle sie sich aber nicht einmischen.

Über eineinhalb Stunden gab die deutsche Altbundeskanzlerin einen umfassenden Einblick in ihre Memoiren, die sie in dem Buch "Freiheit. Erinnerungen 1954 - 2021" auf 736 Seiten zusammengefasst hat: Kindheit und Physik-Studium in der DDR, genervt vom dort vorherrschenden Marxismus-Leninismus hielt sie dennoch fest: "Der Staat schaffte es nicht, mir ein gewisses Maß an Unbekümmertheit zu nehmen."

Flüchtlingskrise 2015 war "eine Zäsur"

Dann folgten Kapitel, die ihren Aufstieg zur Bundeskanzlerin beschrieben, die Finanzkrise und die anschließende Eurokrise sowie 2015 die Flüchtlingskrise und ihr Telefonat mit dem damaligen Kanzler Werner Faymann (SPÖ), nach dem beide die Grenzen für Tausende Flüchtlinge aus Ungarn öffneten. "Dieser Abend war eine Zäsur", sagte Merkel. Für sie sei es stets um Menschen und nicht um anonyme Flüchtlingsströme gegangen. Doch habe die humanitäre Ausnahmesituation auch ein Versagen Europas offengelegt.

"Europa muss an seinen Außengrenzen diese Herausforderung bewältigen", betonte sie. Populistische Parteien wie die AfD werde man außerdem nicht kleinhalten, indem man ihre Themen übernehme, ohne Lösungen zu bringen, warnte sie. Dies gelte auch für die Flüchtlingspolitik. "Maß und Mitte ist die Basis für den Erfolg demokratischer Parteien." Zum Abschluss erläuterte Merkel den Titel ihres Buchs: Wahre Freiheit sei nicht nur auf den eigenen Vorteil ausgerichtet, sondern brauche Demokratie, betonte sie.

Alexander Van der Bellen empfing die deutsche Altkanzlerin in der Hofburg

Merkel war vor ihrer Lesung von Bundespräsident Alexander Van der Bellen empfangen worden. Beide tauschten sich zur innenpolitischen Lage in Deutschland und Österreich nach der Bundestagswahl bzw. Nationalratswahl aus, teilte der Bundespräsident mit. Ebenso besprochen hätten beide die aktuellen geopolitischen Entwicklungen und deren Auswirkungen für die transatlantische Partnerschaft und die europäische Sicherheitsarchitektur.

Merkel habe "mit unermüdlichem Einsatz, viel Umsicht und Geschick die Europäische Union und Deutschland maßgeblich geprägt. Und über ihre Amtszeit hinaus ist sie eine wahre Freundin Österreichs geblieben", lobte Van der Bellen die deutsche Ex-Kanzlerin.
 

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