Vier Jahre Taliban in Afghanistan: "Die Lage ist dramatischer denn je“

ICC issues arrest warrants for top Taliban leaders over persecution of women
Am 15. August jährt sich die Machtübernahme der Taliban zum vierten Mal. Seitdem wurden Grundrechte systematisch abgeschafft, die afghanische Wirtschaft ist zusammengebrochen – und die humanitäre Lage spitzt sich weiter zu.

Die Szenen sind wohl noch den meisten im Kopf: Verzweifelte Menschen stürmen das Rollfeld des Flughafens von Kabul, verstecken sich im Fahrwerk parkender Maschinen, klammern sich an abhebende Evakuierungsflieger – und stürzen in den Tod. Als am 15. August 2021 Kabul als letzte Stadt Afghanistans wieder an die radikalislamistischen Taliban fiel, herrschte unter der Zivilbevölkerung blanke Verzweiflung. Panisch versuchten Tausende, in letzter Minute das Land zu verlassen.

Seitdem sind vier Jahre vergangen - und Afghanistan befindet sich in einer Polykrise: "Einer humanitären, wirtschaftlichen, bildungspolitischen und menschenrechtlichen Krise zugleich. Die Lage ist dramatischer denn je“, sagt Hila Limar zum KURIER. Die gebürtige Afghanin lebt in Deutschland und ist geschäftsführende Vorstandsvorsitzende des Vereins Visions for Children, der sich für bessere Bildungschancen von Kindern in Krisengebieten einsetzt. 

Afghanistan bleibt isoliert und verarmt

Unter den Taliban hat sich das Land isoliert, die Wirtschaft ist zusammengebrochen. Die neuen alten Machthaber setzen auf eine strenge Auslegung islamischen Rechts, schaffen Grundrechte systematisch ab - insbesondere von Frauen: "Frauen wurde nahezu aus allen Bereichen des Lebens verdrängt. Aktuell dürfen sie sich vielerorts nur noch in Begleitung eines Mahram – also eines männlichen Verwandten – im öffentlichen Raum bewegen", so Limar. 

Mädchen dürfen nur noch bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen, Lehrerinnen ausschließlich an Grundschulen unterrichten. Weitere Arbeitsmöglichkeiten sind weitgehend eingeschränkt. Versuche, im privaten Raum oder über Untergrundschulen Bildungsangebote für ältere Mädchen zu schaffen, sind hochriskant. "Es droht eine Generation ohne formale Ausbildung aufzuwachsen. Das bedeutet langfristig fehlende Perspektiven und noch tiefere finanzielle Armut.“

Sherzad Foundation brings education to remote areas of Kandahar

Mädchen dürfen in Afghanistan nur bis zur sechsten Klasse die Schule besuchen.

Dabei ist die Not in dem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, schon jetzt enorm. Die NGO Human Rights Watch warnte zuletzt vor einer der schlimmsten humanitären Krisen weltweit. Die Hälfte der afghanischen Bevölkerung (rund 23 Mio. Menschen) ist auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen - während immer mehr Staaten ihre Hilfsgelder streichen. Laut UN-Angaben mussten bis Juli mehr als 400 afghanische Gesundheitseinrichtungen schließen, weil die Mittel fehlten. 

Flüchtlingskrise spitzt sich zu

Die Klimakrise, die lange Dürren und heftige Überschwemmungen in dem Land am Hindukusch auslöst, tut ihr übriges. Gleichzeitig spitzt sich die Flüchtlingskrise dramatisch zu: 1,9 Millionen Geflüchtete sind aus dem Iran und Pakistan bislang nach Afghanistan abgeschoben worden. Insgesamt sollen laut der Regierung in Islamabad drei Millionen Afghanen das Land verlassen müssen. 

Diese Menschen haben zu großen Teilen seit Jahrzehnten oder noch nie in Afghanistan gelebt. Jetzt kommen sie in einem Land an, in dem sie keine Sicherheit haben – weder wirtschaftlich, noch gesellschaftlich, noch politisch. Diese Abschiebungen sind nicht nur menschenrechtswidrig, sie verschärfen die humanitäre Krise enorm“, so Limar. Die Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit würden nicht die de-facto Regierung, sondern die Zivilbevölkerung treffen, mahnt sie.

PAKISTAN-AFGHANISTAN-IRAN-MIGRANTS

Eine Familie muss Pakistan in Richtung Afghanistan verlassen. 

Auch im Westen wird vermehrt über Abschiebungen nach Afghanistan diskutiert. Deutschland hat unlängst 81 Afghanen nach Kabul abgeschoben. Tausenden afghanischen Staatsangehörigen in den USA droht unter Präsident Donald Trump ebenfalls die Abschiebung - auch in Drittländer.

Protest kaum möglich

Offener Protest gegen das Taliban-Regime in Afghanistan sei kaum möglich, so Limar. Widerstand könne sich lediglich in "kleinen, alltäglichen Formen zeigen, die in der aktuellen Situation mindestens so viel Mut erfordern wie große Demonstrationen. Familien, die ihren Töchtern weiterhin Bildung ermöglichen wollen. Oder Frauen, die trotz aller Einschränkungen Wege finden zu arbeiten oder sich zivilgesellschaftlich engagieren."

Große Teile der afghanischen Bevölkerung würden tagtäglich ums Überleben kämpfen, schildert sie. "Sich darüber hinaus noch politisch zu engagieren ist schlichtweg unmöglich.“ Aber: "Afghanistan hat eine unheimlich resiliente und innovative Bevölkerung – ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen, diese Potenziale entfalten können.“

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