Für den Westen ist es heute eine Art politisches Ritual: Man reist zu Begegnungen mit Vertretern anderer politischer Kulturen mit einem Standardrepertoire an Ermahnungen im Gepäck. Da tadeln wir China für seinen Umgang mit Minderheiten, rümpfen die Nase über Hinrichtungen in Saudi-Arabien und empören uns über Viktor Orbáns unsauberen Umgang mit Meinungsfreiheit. Dass es trotzdem um chinesische Konsumgüter, saudisches Öl und ungarische Grenzschützer geht, die uns bitte die Migranten vom Leib halten sollen, wird stillschweigend akzeptiert.
Ein moralischer Luxus, den sich der Westen auch aufgrund seiner globalen militärischen und wirtschaftlichen Dominanz lange leisten konnte. In einer Welt, in der der Kampf um die globale Vorherrschaft aber so offen wie schon lange nicht ist, wird er schmerzhaft infrage gestellt.
Politische Strategen raten, sich bei jedem Konflikt in den Kopf des Gegenübers zu versetzen. Was wir dort vorfinden, ist eine offene Herausforderung unseres Weltbildes. China sieht seinen Feudalkapitalismus unserer Demokratie weit überlegen, für Putins Russland ist der Westen dekadent und daher schwach, und selbst Viktor Orbán distanziert sich klar von diesem moralisch verwahrlosten liberalen Europa.
Chinas neuer Kolonialismus in Afrika und auf dem Balkan, Putins Drehen am Gashahn: All das sollte uns klar machen, das für die Konflikte des 21. Jahrhunderts ein bisschen moralisches Hofzeremoniell nicht mehr genügt. Wir sollten uns unserer Werte von persönlicher Freiheit, Demokratie oder Menschenrechten bewusst sein, wenn wir uns diesen Gegnern stellen. Denn wir werden sie verteidigen und dafür bezahlen müssen, mit kalten Wohnzimmern, fehlender chinesischer Billigware und einer Flüchtlingswelle, die nicht mehr andere von uns fernhalten. Zeit also, um uns ehrlich zu fragen, was uns diese Werte wert sind. Sind unsere Gesellschaften bereit, einen empfindlichen Verlust an materiellem Wohlstand in Kauf zu nehmen, wenn wir dafür in einer multipolaren Welt für unsere Standpunkte, unsere Weltanschauung eintreten? Gerade Russlands Krieg sorgt dafür, dass wir uns um diese Frage nicht mehr mit einem halblauten Ruf nach irgendeinem Frieden herumdrücken können.
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