Der rettende Bademantel
Die große Stadt ist so anonym, heißt es immer. Jeder ist auf sich alleine gestellt. Niemand kümmert sich um den anderen. Kann sein, muss aber nicht.
Die Nachbarin meiner Freundin M. beschränkt den Kontakt sicherheitshalber auf das Nötigste. Zufällige Begegnungen im Stiegenhaus werden mit einem kurzen Gruß quittiert. Schnell verschwindet die betagte Frau W. wieder hinter ihrer Tür und dreht den Schlüssel um. Zu Recht, möchte man meinen – immer wieder kommt es zu Überfällen, besonders auf wehrlose Ältere.
Doch dann ereignete sich ein anderer Fall: Freundin M. war gerade auf dem Weg hinaus, da hörte sie hinter Frau W.s Tür ein Wimmern. Es hätte auch das Radio sein können, doch sie blieb stehen und klopfte an. Das Wimmern ertönte abermals. Frau W. war gestürzt und kam nicht alleine auf. M. bot an, Hilfe zu holen, doch W. zögerte – sie war nicht bekleidet als sie gestürzt ist.
Also setzte sich M. vor die Tür und die beiden Frauen begannen ein Gespräch. M. erfuhr, dass W. kaum Angehörige hatte und nicht nur den Nachbarn gegenüber, sondern generell ein zurückgezogenes Leben führte.
Es wurde spät und M. drängte abermals, Hilfe holen zu dürfen. Sie versprach, die arme Frau W. zu bedecken, sobald die herbeigeholte Hilfe die Tür geöffnet hat. Also willigte W. ein. Kurz darauf waren Feuerwehr, Rettung und Polizei da, machten den Weg frei und ließen M. zuerst hinein, damit sie Frau W. mit einem Bademantel umhüllen konnte.
Inzwischen ist Frau W. wieder zu Hause und hat sich die Telefonnummer von M. geholt. Bei Begegnungen im Stiegenhaus bleiben die beiden Frauen jetzt kurz stehen, um zu plaudern.
In der großen Stadt kümmern sich die Menschen umeinander. Sie müssen nicht, aber es ist wertvoll, wenn sie es tun.
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