Rütteln am europäischen Rechtssystem

Integration von Flüchtlingen
Kritik an der Europäischen Menschenrechtskonvention scheint kein Tabubruch mehr zu sein. Auch nicht für die österreichische Regierungsspitze.
Martin Gebhart

Martin Gebhart

Als FPÖ-Parteichef Herbert Kickl im Jahr 2019 als Innenminister in einem ORF-Gespräch ankündigte, Grundregeln der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Asylbereich zu hinterfragen, sorgte das bei allen anderen Parteien für helle Empörung. 

Als er diese Forderung in darauffolgenden Wahlkämpfen wiederholte, wurde das als die unrealistische Idee eines weit rechts stehenden Politikers abgetan.

Rütteln an der europäischen Rechtsprechung

Die nächste Welle der Empörung gab es dann 2022, als ÖVP-Klubobmann August Wöginger ähnlich argumentierte. Er schlug eine Überarbeitung der EMRK vor. Da musste sogar seine Parteikollegin, die damalige Europaministerin Karoline Edtstadler, ausrücken, um alles politisch wieder ins Lot zu bringen. Der grüne Koalitionspartner deponierte zusätzlich, dass die EMRK nicht verhandelbar sei. Wöginger selbst griff das Thema nicht auf.

Im Jahr 2025 scheint es hingegen kein Tabubruch mehr zu sein, wenn an der europäischen Rechtsprechung gerüttelt wird. Die neue österreichische Regierung ist da vorgeprescht, indem sie den Familiennachzug vorläufig gestoppt hat. Man hat sich zwar von einigen Europarechtlern ein Argumentarium zusammenstellen lassen, um erklären zu können, dass man damit nicht im Widerspruch zur EMRK steht. Tatsächlich bewegt man sich aber auf sehr dünnem Eis, weil diese Maßnahme nur sehr schwer mit den europäischen Grund- und Menschenrechten vereinbar ist. Und die sind seit 1964 in unserer Verfassung verankert. Dieses Risiko wurde dennoch bewusst in Kauf genommen. Seit dieser Woche fällt die Argumentation sogar leichter, weil auch Deutschland den Familiennachzug nun stoppt.

Der FPÖ nicht das Feld überlassen

Ähnlich verhält es sich mit dem Brief von neun Regierungschefs – darunter auch Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) –, mit dem dazu aufgerufen wird, die Auslegung der EMRK zu ändern, wenn es um die Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern geht. Die Motivation der ÖVP ist leicht durchschaubar: Der FPÖ soll dieses Feld nicht überlassen werden. Dass damit die Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) infrage gestellt wird, wird als notwendiger Kollateralschaden angesehen. Die Proteste der rot-pinken Regierungspartner sind noch dazu so schaumgebremst ausgefallen, dass diese Unterschrift zu keinem wirklichen Regierungskrach führen wird.

Die treibenden Kräfte der Bewegung sind die dänische Sozialdemokratin Mette Frederiksen und die italienische Rechtspopulistin Giorgia Meloni. Was zeigt, dass es kein ideologischer Feldzug ist. Vielmehr muss die Frage beantwortet werden, ob die EMRK der aktuellen politischen Entwicklung angepasst werden muss. Dem muss sich der Europarat jetzt stellen – und rasch eine Antwort finden.

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