Warum wir lieber um den eigenen Nabel kreisen

Staying healthy is part of self care
Eine übersättigte Wohlstandsgesellschaft, die keine schlechten Nachrichten mehr hören will, flüchtet ins rein Private. Keine gute Idee. Ein Pfingstappell.
Martina Salomon

Martina Salomon

Ist Ihr Geist hoffentlich pfingstlich erleuchtet? Pfingsten ist übrigens ein christliches Hochfest, der eigentliche Beginn der Kirchengeschichte. Doch, halt, ganz vielen Menschen ist derzeit der Nabel deutlich näher als das Hirn, wie man auch an den Verlagsprospekten für den Herbst schön beobachten kann.

Da ist nämlich radikale Selbstoptimierung angesagt. Wer also nicht mit „Longevity-Hacks“ den Alterungsprozess umkehrt, sein Immunsystem boostert, genug Protein-Power tankt, die Hormone und die Darmflora in Balance hält, und über ein personalisiertes Fastenprogramm verfügt, der/die gilt womöglich als Modernitätsverlierer. Natürlich vergeht auch kein Tag ohne das neue Trendthema „Wechseljahre“. Bitte, verehrte Ärzteschaft, nehmt die betroffenen Frauen ernst(er), damit uns endlich wieder andere Fragen in Wallung bringen können. Denn auch wenn die Debatte feministisch aufgeladen ist, könnte das durchaus den gegenteiligen Effekt haben und Frauen wieder einmal als Problemfall am Arbeitsmarkt brandmarken. Die männlichen Dysfunktionalitäten, die wir ja auch unfreiwillig jeden Abend im TV serviert bekommen, haben wenigstens keine Auswirkungen auf das Berufsleben.

Aber vielleicht ist dieser auffällige Rückzug auf sich selbst eine logische Folge einer in jeder Hinsicht übersättigten Wohlstandsgesellschaft, die ihren Abstieg nicht wahrhaben will.

Vor der Flut schlechter Nachrichten flüchtet man lieber ins Private. Denn wer will schon so genau wissen, dass Österreich gerade bedrohlich in allen Wirtschaftsrankings abrutscht, was zwar lange für die privaten Haushalte abgefedert wurde, nun aber mit steigender Arbeitslosigkeit unübersehbar wird? Wen interessiert eigentlich, dass das Pensionsantrittsalter genau so wie in vergleichbaren Ländern ernsthaft steigen muss – auch wenn die SPÖ und diverse Pensionistenverbände diese Realität beinhart verdrängen (obwohl Pensionisten davon gar nicht betroffen wären)? Und ist es nicht anstrengend, sich Gedanken darüber zu machen, wie die gefährliche Polarisierung in der Gesellschaft wieder aufgelöst werden kann?

Wobei – wer den Blick hebt, kann auch Lichtstreifen am Horizont erkennen: Im ersten Quartal dieses Jahres ist bereits eine Mini-Wirtschaftserholung sichtbar. Und Hans-Peter Doskozil meinte bei der Landeshauptleutekonferenz am Freitag , dass die Krise auch eine Chance auf echte Strukturreformen sei. Sein Wort in Gottes Ohr!

Wenn sich aber eine Gesellschaft vom politischen Prozess abwendet, kann sie ihn nicht mehr mitgestalten. Das ist ein Pfingstappell, vor allem an Junge: Lest mehr, als nur Wisch-&-Weg-Videos auf Tiktok! Interessiert euch! Gestaltet mit! Achtet auf das Hirn, und nicht nur auf den Bauch!

Martina Salomon

KURIER-Herausgeberin Martina Salomon

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