Zum Israel-Posting im ORF: Es ist nie die Schuld der Opfer

Die Antisemitismus-Meldestelle verzeichnete 2024 einen deutlichen Anstieg an Vorfällen in Österreich.
Vor Kurzem sorgte ein Social-Media-Posting eines ORF-Redakteurs für Empörung. Darin hieß es: „Wenn ich 2000 Jahre lang Opfer bin, sollte ich mir langsam überlegen, woran das wohl liegen mag“. Dieses Missverständnis antisemitischer Narration – die Juden quasi für ihre eigene Verfolgung verantwortlich zu machen – aktiviert einen uralten und gefährlichen Mechanismus: Den Opfern zuschreiben, sie wären an ihrer Verfolgung „selbst schuld“. Eine antisemitische Täuschung – weil sie die strukturelle Gewalt, Machtverhältnisse, Geschichte und ideologische Hetze einfach ignoriert. Wer 2000 Jahre lang nicht konform mit Mehrheitsstrukturen war – wegen Religion, Kultur oder Ethnie – und dafür verfolgt wurde, kann nicht in gleicher Logik zur Selbstkritik herangezogen werden. Es ist eine Täuschung, eine moralische Parodie: Die Opfer sollen sich selbst erklären, warum sie verfolgt wurden.
Wer Leid systematisch in Selbstverschuldung umdreht, degradiert Opfer zu Mittätern: Juden hätten durch ihr „Anderssein“ antijüdische Gewalt heraufbeschworen. Ein geistreiches Töpfchen, das sich auf den Deckel setzt: Kunststück, wenn man meint, die Juden wären „schuld“, dass sie verfolgt wurden. Antisemitismus ist kein Naturereignis, sondern ein gezielt geschaffenes Konstrukt, das von der mittelalterlichen Kirche über rassistische Ideologien bis zu heutigen Verschwörungsmythen als strategisches Machtinstrument dient. Ob Wirtschaftskrise, politische Radikalisierung oder moralische Panik – statt den Ursachen in der Gesellschaft zu begegnen, sucht man „Sündenböcke“. Das war seit der Antike so – und ist heute nicht anders. Antisemitismus ist kein Spiegelbild des jüdischen Verhaltens – sondern kulturelles Gift. Wenn jemand behauptet, Juden sollten sich überlegen, warum sie antijüdischer Gewalt ausgeliefert sind, dann sagt er genau das, was antisemitische Ideologie schon immer sagen wollte: Dass Judesein selbst ein Problem sei. Eine solche Logik ist falsch, gefährlich und historisch blind. Und doch wird dieses Narrativ immer wieder bemüht, weil es eine bequeme Entlastung schafft: Wer das Opfer verantwortlich macht, muss sich mit den Strukturen des Hasses nicht befassen.

Klaus Davidowicz
Herrschaft und Gewalt
Es ist ein universelles Instrument von Herrschaft und Gewalt, das immer wieder Opfer trifft. Frauen erleben es in bedrückender Regelmäßigkeit: Wenn über sexuelle Gewalt gesprochen wird, erhebt sich noch heute das alte Repertoire an Vorwürfen. „Was hatte sie an?“, „Warum war sie nachts alleine unterwegs?“ – Fragen, die den Täter entschuldigen und das Opfer belasten. Genau wie beim Antisemitismus wird hier die strukturelle Gewalt ausgeblendet. Der Mechanismus ist derselbe: Die Opfer sollen sich erklären, anstatt dass Täter zur Verantwortung gezogen werden. Diese Umkehr ist nicht nur perfide, sie ist auch brandgefährlich, weil sie Gewalt normalisiert und die Machtverhältnisse stabilisiert.
Besonders teuflisch am Antisemitismus ist zudem, dass Juden bis heute selten als selbstverständliche Angehörige der jeweiligen Nation gesehen werden. Der österreichische Jude bleibt in der Wahrnehmung zu oft ein „Jude in Österreich“, aber kein Österreicher wie jeder andere. Genau dieses Muster – Juden als ewig Andersartige, als „Nicht-Dazugehörige“ – ist das Fundament, auf dem die Täter-Opfer-Umkehr gedeiht. Denn nur wer als Fremdkörper markiert wird, kann auch leichter zum Sündenbock gemacht werden.
Sehr eindringlich hat Ralph Giordano einmal in einem Interview geschildert, wie tief solche Narrative wirken können. Während der NS-Zeit sah er gemeinsam mit seinem besten Freund den antisemitischen Propagandafilm „Jud Süß“. Am Ende der Vorführung sagte der Freund den furchtbaren Satz: „Es wird schon etwas dran sein.“ Damit wird die ganze infame Logik der Täter-Opfer-Umkehr sichtbar: Selbst enge Freunde, selbst Menschen ohne eigene antisemitische Prägung, können durch die suggestive Macht von Propaganda in den Glauben versetzt werden, die Juden hätten an ihrem Schicksal irgendwie selbst schuld. Es ist dieses „Es wird schon etwas dran sein“, das den Antisemitismus so gefährlich macht.
Wer Opfer zu Tätern erklärt, schreibt den Tätern einen Freibrief. Wer sagt „Es wird schon etwas dran sein“, macht sich selbst zum Komplizen der Gewalt. Deshalb muss die Formel für alle Zeit lauten: Nie die Schuld der Opfer. Niemals. Nicht bei Frauen, nicht bei Juden, nicht bei irgendeiner Minderheit. Denn in dem Moment, in dem wir diese Täuschung akzeptieren, beginnt die Barbarei von Neuem.
Zum Autor:
Klaus Davidowicz ist Kulturwissenschafter und Vorstand am Institut für Judaistik der Universität Wien.
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