Assistierter Suizid: Es gibt keine Insel souveräner Autonomie

Es ist paradox: Am kommenden Welttag der Suizidprävention (10. September) müssen wir über ein Phänomen sprechen, das die Prävention systematisch untergräbt. Überall dort, wo assistierter Suizid legalisiert wurde, passiert dasselbe: Die Zahlen werden nicht weniger. Sie steigen. Wollen wir das als Gesellschaft?
Die Daten widersprechen der These, wonach „gewaltsame Suizide“ weniger würden: Assistierter Suizid ersetzt andere Formen der Selbsttötung nicht, sondern addiert sich zu ihnen. Die Schweizer Statistik liefert eindeutige Zahlen: Zwischen 2010 und 2023 stiegen die assistierten Suizide von Schweizer Staatsbürgern um 385 Prozent – von 356 auf 1.729 Fälle. Parallel dazu blieb die Zahl der „konventionellen„ Suizide konstant bei etwa 1.000 jährlich. Mit rund 2.700 Suiziden pro Jahr verzeichnet die Schweiz heute doppelt so viele wie Österreich bei vergleichbarer Bevölkerungsgröße.
Auch hierzulande zeigt sich nach Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes 2022 eine beunruhigende Entwicklung: 2023 waren es noch 98 assistierte Suizide, aber bis Juli 2025 wurden bereits 719 Sterbeverfügungen errichtet. Das Muster wiederholt sich mit erschreckender Präzision.

Susanne Kummer.
Werther-Effekt
Mehr als 150 wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: sensationsträchtige Darstellungen von Suizid führen zu einem Anstieg der Suizidrate. Der sogenannte Werther-Effekt – die Nachahmung medialer Suiziddarstellungen – ist bei Prominenten besonders stark ausgeprägt. Die Normalisierung des assistierten Suizids als „rationale Lösung“ verstärkt diesen Mechanismus zusätzlich. Kein seriöser Journalist würde einem unbekannten Anrufer eine Bühne bieten, der seinen Suizid ankündigt. Warum geschieht dies bei Prominenten? Wenn assistierter Suizid als „mutig“ inszeniert wird – sind dann alle anderen, die das Sterben auf sich zukommen lassen und hineinwachsen, etwa feige? Und jene, die sie pflegen, auch?
Menschen mit Suizidgedanken befinden sich nicht auf einer Insel souveräner Autonomie. Wer schwer krank, depressiv oder hochbetagt ist, durchlebt eine Phase intensiver Verletzlichkeit. Wenn die Option zur Tötung als gesellschaftlich akzeptierte Lösung im Raum steht, wächst subtil der Druck: Man könnte Angehörigen „eine Last ersparen“, dem Gesundheitssystem „Kosten vermeiden“. Entsolidarisierung geschieht schneller, als man denkt. Eine hochaltrige Patientin in Belgien formulierte es bitter: „Erst, seit ich gesagt habe, dass ich Euthanasie will, bekomme ich Besuch von meinen Kindern.“ Der Todeswunsch wird zur Ressource in sozialen Beziehungen – ein fatales gesellschaftliches Signal.
Palliativpflege ausbauen
Jeder Suizid ist einer zu viel – auch der assistierte. Statt Suizidalen eine mediale Bühne zu bieten, sollten wir helfende Beziehungen stärken und lebensbejahende Wege aufzeigen. Dazu braucht es den Ausbau von Palliative Care, die Schmerzen lindert, Ängste löst, menschliche Nähe schenkt. Sterbehilfe-Vereine fordern ein „entspannteres Verhältnis zum Tod“. Dem ist viel abzugewinnen.
Aber bleiben wir präzise: Ein entspannteres Verhältnis zum Tod ist nicht dasselbe wie ein entspannteres Verhältnis zum Töten. Das wäre nämlich verhängnisvoll.
Anmerkung: Der KURIER entschied sich dazu, erst nach dem Ableben Niki Glattauers über dessen Wunsch nach assistiertem Suizid zu berichten.
Zur Autorin:
Susanne Kummer ist Ethikerin und Direktorin des Wiener Institut für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE), unterstützt von der Österr. Bischofskonferenz
Sie sind in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchen Hilfe? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums.
Unter www.suizid-praevention.gv.at finden sich Kontaktdaten von Hilfseinrichtungen in Österreich.
- Rat auf Draht ist die österreichische Notrufnummer für Kinder und Jugendliche. Die Nummer ist unter 147 rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar.
- Die Ö3-Kummernummer ist unter 116 123 täglich von 16 bis 24 Uhr und ebenfalls anonym erreichbar.
- Die Telefonseelsorge ist unter der kostenlosen Telefonnummer 142 rund um die Uhr als vertraulicher Notrufdienst jeden Tag des Jahres erreichbar.
- Auf der Website www.bittelebe.at finden Angehörige/Freunde von Menschen mit Suizidgedanken Hilfe.
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