Die Spuren der Gewalt

(Symbolfoto)
Mit der Behauptung, es wären mehrfach „rote Linien überschritten“ worden, versuchte der Wiener Landesgerichtspräsident die massive Kritik an der vorsitzenden Richterin abzuschmettern, die den Freispruch des nunmehr 17-Jährigen moralisch zu verantworten hat, der eine 12-Jährige zum Oralsex gezwungen und an seinen Kumpelkreis „weitergegeben“ hatte wie ein Fahrrad. Sein Argument: „Dadurch wird ein Druck aufgebaut, der die Justiz und die unabhängige Rechtsprechung in Gefahr bringt“ (KURIER, 16. 1.).

Rotraud Perner
Ich habe in meinem Jus-Studium gelernt: Jede sexuelle Handlung an Kindern ist aufgrund deren Unmündigkeit Gewalt – eben weil sie noch nicht zustimmungsfähig sind. Ich habe jetzt in diesem Kollegenkreis herumgefragt, ob sich da etwas geändert hat, und alle haben verneint. Was sie aber nicht wussten – und die im aktuellen Strafprozess betroffene Richter- und Staatsanwaltschaft (Laienrichter inbegriffen) wohl auch nicht, ist, dass es dank der computergestützten Gehirnforschung nunmehr auch den naturwissenschaftlichen Nachweis gibt, dass der Ansatz der Mündigkeit mit 14 Jahren (der sich vermutlich am Eintritt ins Berufsleben orientiert hat – meiner Auffassung nach wäre 16 besser) knapp der dazu nötigen Gehirnreifung entspricht (s. N. Doidge, „Neustart im Kopf“: 222 ff.).
Ich fordere seit 1996 sexuologische Fortbildung für Fachkräfte in den mit sog. Sexualdelikten befassten Berufen (Sachverständige, Sozialarbeit, Seelsorge etc.), auch für Psycho-Berufe wie auch diejenigen, die sexualpädagogisch tätig sind oder werden wollen. Das braucht neben psychotherapeutischem auch pädagogisches und soziologisches Fachwissen und vor allem supervidierte Selbsterfahrung.
Wenn sich der Gerichtspräsident Sorgen um die „unabhängige“ Rechtssprechung macht, sei daran erinnert, dass nicht einmal voll durchanalysierte Psychotherapeuten immer frei von Vorurteilen sind – besonders heutzutage in der von mir sogenannten „4. Sexuellen Revolution“ – der „kommerziellen“ (siehe mein Buch „Sexuelle Reformation – Freiheit und Verantwortung“), in der die Grenzen der „beworbenen“ sexuellen Dienstleistungen und Produkte der Abstumpfung halber (siehe „Zuckerbäcker-Effekt: Lehrlinge dürfen naschen, so viel sie wollen – irgendwann kommt der Überdruss) laufend ins Extreme hinausgeschoben werden – und sich neurologisch als „übliche“ Verhaltensmöglichkeit im Gehirn verankern.
Genau deswegen ist Einzelsupervision so wichtig, damit in dem Grenzbereich, wo es um die Bewahrung des leibseelischgeistigen (und daher auch sexuellen) Gesundheitspotenzials künftiger Mütter und (aus dem Blickwinkel der Epigenetik) folglich auch künftiger Generationen geht, die ebenfalls durch Gehirnscans nachweisbaren Spuren der Gewalt verhütet werden können.
Rotraud Perner ist Juristin, Psychoanalytikerin, war Univ.-Prof. für Prävention u. Gesundheitskommunikation.
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