Europa muss jetzt das Undenkbare zu Ende denken

Europa muss jetzt das Undenkbare zu Ende denken
Nach dem gescheiterten Putsch in Russland muss Europa sich auch auf die schlimmsten Szenarien nüchtern vorbereiten.
Konrad Kramar

Konrad Kramar

Noch einmal haben die Panzerwagen auf dem Weg nach Moskau kehrt gemacht, noch einmal bleibt der Kopf dieses Zaren – im Gegensatz zu jenen anderer Kremlherren – auf den Schultern. Erleichterung aber kann das seltsame Ende dieses seltsamen Putschversuchs wohl bei niemandem auslösen. Um sich zu vergegenwärtigen, in welchem Zustand sich dieses Russland, seine politische Führung und seine Gesellschaft heute befinden, muss man den Blick nur ein bisschen vom Tagesgeschehen und von so malerischen Schreckensgestalten wie dem Söldnerführer Prigoschin abwenden.

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Dessen Truppen, die er am Samstag in Richtung Moskau schickte und die an der Front vor Bachmut zu Tausenden zerfetzt wurden, rekrutieren sich aus Schwerverbrechern. Die holte man, als der Krieg in der Ukraine neues Menschenmaterial brauchte, einfach aus den Gefängnissen.

Man gab ihnen keine Bürgerrechte, keinen klaren Rechtsstatus, aber man gab ihnen ein Gewehr, um sie in den Tod zu schicken, nicht als Teil der Armee, sondern als bewaffneter Haufen unter dem Kommando eines Privatmanns.

Die Grenze zum Mafia-Staat überschritten

Ein Land, in dem das möglich ist, ist nicht mehr jene halbautoritäre Demokratur, als die man Putins Russland auch hierzulande gerne betrachtet. Es hat längst die Grenze zum Mafia-Staat überschritten und wer die Regeln der ehrenwerten Gesellschaft auch nur in Grundzügen kennt, weiß, dass das Blutvergießen erst dann wirklich beginnt, wenn der Pate zu schwächeln beginnt.
Putin schwächelt, seit er diesen Krieg – getrieben von einer cäsarenhaften Allmachtsfantasie – vom Zaun gebrochen hat. Seine Günstlinge und Helfershelfer tragen seither den Dolch im Gewand, bereit, ihn gegen jeden Widersacher, aber auch gegen den Zaren selbst zu richten. Jetzt hat ihn der Günstling, der die notwendigen Waffen schon besaß, offen herausgefordert. Andere werden folgen, wann und wie diese sich Waffen beschaffen, ist nur eine Frage der Zeit und der Taktik.

Krieg ist immer auch ein Turbo für die Geschichte. Der Krieg in der Ukraine wird den ohnehin unausweichlichen Umbruch in Russland beschleunigen. Ein Blick auf den aktuellen Zustand dieses Landes, aber auch auf seine Geschichte, macht wenig Hoffnung auf eine friedliche Lösung.

Dieses Russland trägt immer noch das Erbe des Kolonialismus der Zaren in sich, ebenso wie dessen nicht weniger grausame Fortsetzung durch Lenin und vor allem Stalin. Diesem postkolonialen Imperium, das immer nur durch Gewalt zusammengehalten wurde, droht also entweder eine noch schlimmere Variante von Gewaltherrschaft, oder auch der Zerfall.

Die Folgen für einen Raum, der von den Grenzen der EU bis an den Pazifik reicht, sind nur schwer vorstellbar. Wir in Europa werden sie trotzdem ganz nüchtern zu Ende denken müssen.

 

Europa muss jetzt das Undenkbare zu Ende denken

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